Wie geht es weiter, Herr Kultusminister?

Pressemitteilung des Stadtelternbeirates Wiesbaden

1. Das Aufholprogramm – zu wenig, zu spät, ohne Konzept

Seit Beginn der Pandemie vor mehr als einem Jahr haben Schüler und Schülerinnen mehr als die Hälfte des sonst üblichen Präsenzunterrichts verpasst, ihre Sportvereine waren geschlossen, keine Kultur- und Freizeitangebote, keine Treffen im Freundeskreis, kein unbeschwertes Heranwachsen ...

Mit einem Corona-Hilfspaket für Kinder und Jugendliche will die Bundesregierung jetzt nicht nur die schulischen Schäden begrenzen. Zwei Milliarden Euro will der Bund ausgeben, davon ist eine Milliarde Euro für den Abbau von Lernrückständen. Das klingt beeindruckend, aber bei rund 10,9 Millionen Schüler*innen bedeutet dies nur etwa 92 Euro pro Kind für den Zeitraum bis Dezember 2022. Das ist zu wenig und folgt nicht der Einsicht, dass unsere Kinder noch lange unter den Folgen der Pandemie leiden werden. Aber auch dieses Geld muss erstmal sinnvoll ausgegeben werden.

Wo bleibt die Strategie, die Schwerpunkte nach Altersgruppen, Schulformen und Schulfächern setzt, wie diese Gelder im Sinne der Schüler*innen verwendet werden?

Kultusminister Lorz will die Herausforderungen für Hessen ‚beherzt gemeinsam anpacken‘ und stellt weitere 60 Millionen Euro aus dem Sondervermögen des Landes zur Verfügung, schlappe 72 € pro Schüler*in Hessen. Man habe bereits eine Stabsstelle im Ministerium eingerichtet.

Lorz setzt wie seine Amtskolleg*innen auf Lehramtsstudierende, pensionierte Lehrer, Volkshochschulen, Vereine – und auf kommerzielle Nachhilfeinstitute. Denn längst ist klar, es gibt zu wenig Lehrer*innen an den Schulen, die die Schüler*innen beim Schlie1 en der Lernlücken aus monatelangen Schulschlie1 ungen unterstützen könnten. In vielen Schulformen kann der normale Lehrplan kaum mit Kolleg*innen abgedeckt werden, eine Fehlplanung der vergangenen Jahre. Schätzungen gehen davon aus, dass jedes 4. oder 5. Kind Corona-bedingt Unterstützung braucht. Verlässliche Studien liegen noch nicht vor, Lernstandserhebungen wären dringend erforderlich und nicht erfolgt. Bei nur drei zusätzlichen Unterrichtsstunden pro Woche und Schüler*in lässt sich der bundesweite Bedarf auf über 200.000 Lehrkräften hochrechnen.

Wann kommt also das an einem gestrafften Lehrplan orientierte, individuelle Förderkonzept für alle Schüler*innen?

Wann sind welche qualifizierten Anbieter von Nachhilfe- und Förderangeboten an welchen Schulen in welchen Kommunen am Start?

Bisher ist davon nichts zu hören und zu sehen, aber gebraucht werden Konzepte zur individuellen Förderung, die einem pädagogisch erforderlichen Qualitätsstandard entsprechen. Jedem Kind in Hessen muss Unterstützung angeboten werden, die längerfristig angelegt und verlässlich ist. Sollen die Angebote nicht verpuffen, bedarf es einer Projektplanung inkl. Zeit- und Ressourcenmanagement und Überprüfung der Wirksamkeit.

Das staatliche Schulamt in Wiesbaden ist dabei, Ideen zu sammeln; ansonsten müsse man abwarten.

 

2.   Impfen, Testen, Schützen – oder die 4. Welle kommt bestimmt

Man muss kein*e Hellseher*in sein: Die 4. Welle kommt bestimmt, im Herbst, abgeschwächt.

Selbst bei optimistischen Schätzungen werden dann noch viele ungeimpfte Schüler*innen in Schulen aufeinandertreffen. Es gibt keine Impfempfehlung, es mangelt an Impfstoff, aber auch nicht jede*r möchte sein Kind impfen lassen.

Ein wissenschaftlich abgesichertes Impfprogramm für Schüler*innen hätte den Landespolitikern unangenehme Fragen erspart. Auch die Stadt Wiesbaden hatte rasch und bereits vor Freigabe des Impfstoffes und der Empfehlung der Stiko für Kinder ab 12 Jahre einen Koordinator benannt und Impftermine kommuniziert. Die Fragen danach, was sie konkret an Ma1 nahmen getroffen haben, um weitere Schulschlie1 ungen im Herbst und Winter zu vermeiden, verhallen hingegen unbeantwortet:

Wurde in den Gesundheitsschutz in Schulen investiert, so dass ein sicherer Schulbetrieb im Herbst auch bei steigenden Infektionszahlen möglich bleibt?

Seit über einem Jahr gibt es gute Konzepte für sicheren Präsenzunterricht: Luftfilter, Plexiglastrennscheiben, kleinere Klassen. Gut vorbereitet scheinen die Schulträger nicht, sie verweisen weiter auf Abstandhalten, wo es möglich ist, und Sto1 lüften. Mehr Busse für die Schüler*innenbeförderung? Ebenfalls Fehlanzeige.

Steht die Teststrategie für den Herbst?

Wie gehen wir um mit einer ‚gemischten‘ Schüler- und Lehrerschaft aus Geimpften, Genesenen und

Ungeimpften und lassen keine*n auf der Strecke?

Es darf nicht erneut zu schulischen Situationen kommen, in denen Kinder benachteiligt werden, diesmal weil sie nicht geimpft sind.

Meistern wir den Distanzunterricht, falls wieder notwendig, besser als zu Beginn der Pandemie?

Stehen die Konzepte für einen gelingenden Distanzunterricht basierend auf den Erfahrungen aus den eineinhalb Jahren der Pandemie? Sind alle Schüler*innen und Lehrer*innen digital ausgestattet und geschult, die Schulen am Breitband angeschlossen und unterstützenden IT-Fachkräfte eingestellt und eingearbeitet?

Oder werden wir im zweiten Corona-Herbst wieder hören: „Huch, das konnte keiner ahnen?“

Vorgaben und Anweisungen aus den Ministerien fehlen. Das städtische Schulamt in Wiesbaden sieht nach

eigenen Angaben derzeit keinen Handlungsbedarf. Man warte ab.

Die Beobachtungen legen nahe, dass man an oberster Stelle nicht bereit ist, in das Schulsystem und damit in die Zukunft der Jugend dauerhaft und vorausschauend zu investieren. Dies betrifft sowohl das knauserig geschnürte Bundesprogramm, wie auch die schön formulierten, aber unterfinanzierten Landesprogramme. Die Kinder haben in diesem auf (Aus-)bildung angewiesenen Land offensichtlich keine Lobby?

Erstaunlich ist, dass untergeordnete Ämter auf Anordnungen zu warten scheinen, während die Politik die Entscheidungen und Detailfragen gerne dorthin delegiert, weil man sich ‚an der Basis‘ vermeintlich besser auskenne. So sind alle gefangen, au1 er den Schulen und Familien, die weitermachen- ächzend unter der täglichen Last und der Zukunftsangst um ihre Kinder.

Sabine Fuchs-Hinze

Stadtelternbeirat Wiesbaden