Wählergunst statt Kindeswohl

Presseerklärung: Ein klares NEIN zum Neubau von Gymnasien in Wiesbaden

Presseerklärung der GEW Wiesbaden-Rheingau vom 08.02.2019

 

Wählergunst statt Kindeswohl 

Ein klares NEIN zum Neubau von Gymnasien in Wiesbaden und ein dreifach donnerndes JA zur Stärkung der Gesamtschulen

 

SPD und Grüne zerschlagen die Gesamtschulen, unterwerfen sich dem Konzept der Zweigliedrigkeit, und hoffen so in konservative Wählerschichten zu erobern.

 

Die GEW fordert:

-    Ausbau von Gesamtschulen in Wiesbaden

-    Schaffung einer Oberstufe an der Wilhelm- Leuschner- Schule

-    Aktives Vorgehen zum Erhalt der differenzierten Schüler*innenschaft an Gesamtschulen statt konzeptionelle „Restschulen“

 

Mit Empörung nimmt die GEW Wiesbaden-Rheingau zur Kenntnis, dass die Stadt Wiesbaden als Schulträger in einem völlig intransparenten Prozess den Neubau von zwei Gymnasien in Betracht zieht. Diese Pläne sollen - nach den jahrelangen Erfahrungen mit dem verschleppten Umgang mit dringend notwendigen Schulsanierungen - zudem in einem bemerkenswerten Tempo vollzogen werden.

 

Während ein solcher Vorstoß in die schulpolitischen Strategien eher konservativer Parteien passt, handelt es sich doch seitens der SPD und auch der Grünen um eine beachtliche Kehrtwende. Wenn zudem Presseberichten zu entnehmen ist, dass die SPD die genannten Pläne „wohlwollend konstruktiv begleiten“ wolle, kann das nicht anders verstanden werden, als dass man sich von einer starken Gesamtschulpolitik verabschiedet.

 

In der GEW Wiesbaden-Rheingau vorliegenden Papieren wird deutlich ersichtlich, dass es sich bei dem Vorhaben weniger um politischen (Gestaltungs-)Willen handelt, sondern vielmehr um politische Angst vor einer vermeintlichen Wählerstimmung.

 

Zu der Frage, ob sich die zusätzlichen Gymnasialwünsche an bestehenden IGSen unterbringen lassen, wird vermerkt: „Rechtlich grundsätzlich möglich, weil HSchG (Hochschulgesetz) nur Wahl des Bildungsganges abdeckt. Politisch kann davon nur abgeraten werden.“ 

Die IGS sei - so weiter mit Blick auf Frankfurt - „keine akzeptierte Alternative für die allermeisten Eltern.“

 

Wenn nicht bereits der Vergleich mit Frankfurt in dieser Hinsicht fragwürdig erscheint, so muss man sich spätestens jetzt fragen, was denn realpolitisch dafür getan wurde, das Etablieren und Bestehen von Gesamtschulen in Wiesbaden attraktiv zu machen. Allein der Blick auf die Tatsache, dass keine einzige Gesamtschule in Wiesbaden eine Oberstufe hat, verdeutlicht dies.

Doch auch die Frage, ob der vermeintliche Gymnasialwunsch durch bestehende IGSen aufgefangen werden könne, ist bezeichnend für die dahinterstehende politische Einstellung. So müsste die Frage richtig vielmehr lauten: Ist der der Wunsch nach gymnasialen Abschlüssen durch den Neubau einer IGS mit eigener Oberstufe aufzufangen?

 

Dass solche Gedanken offenbar nicht einmal mehr in Erwägung gezogen werden, zeigt, wie weit man sich in Wiesbaden schulpolitisch auf eine Zweigliedrigkeit eingestellt hat. Diese in bereits mehreren Bundesländern mit besorgniserregender Tendenz zu beobachtender Entwicklung läuft darauf hinaus, dass alle anderen Schulen neben dem Gymnasium degradiert werden – sodass es daneben nur noch eine weitere Schulform gibt. Man braucht nicht viel Fantasie, um dabei von „Restschulen“ zu sprechen. 

 

In Wiesbaden wird genau dies eintreten, wenn zudem die gymnasialen Neubauten in unmittelbarer Nähe zu bestehenden IGSen errichtet werden. Während die Wilhelm-Leuschner-Schule in ihrer begrüßenswerten Entwicklung der jüngeren Vergangenheit nicht nur ausgebremst werden wird, wird es dies für die Alexej-von-Jawlensky-Schule zu einer existenziellen Bedrohung führen. Ihnen wird man fußläufig für das Funktionieren eines auf Gemeinschaft und Gemeinsamkeit ausgerichteten Lernkonzepts wichtige Schüler*innen im oberen Leistungsniveau entziehen. Denn da beide Gesamtschulen noch immer keine Oberstufe haben, wird damit nicht (wie eingangs ausgeführt) einem vermeintlichen Elternwillen nachgekommen, sondern dieser wird aktiv beeinflusst und gelenkt.

 

Zudem ist bereits jetzt zu erkennen und wird sich durch die vorgesehenen Maßnahmen massiv verstärken, dass es zu systemischen Abschulungen kommen wird. Schüler*innen, die in einer Entweder- Oder- Logik das Gymnasium anwählen, dort innerhalb kurzer Zeit in Lernschwierigkeiten geraten, werden in jungen Jahren einen persönlichen, emotionalen Bruch in ihrer Schullaufbahn - und damit auch in ihrem Selbstwertgefühl - erleben müssen. Daher setzt sich die GEW Wiesbaden-Rheingau an dieser Stelle als Bildungsgewerkschaft deutlich für das Kindeswohl ein.

 

Grundschullehrer*innen bekennen, dass sie sich stark um das Wohl der Kinder sorgen, die auf Elternwunsch ein Gymnasium besuchen werden. Viele sind sich einig: „Man kann an Kindern nicht ziehen, ebenso wenig wie an Pflanzen, um schnelleren Wachstum zu erreichen. Im Gegenteil! Kinder leiden durch ständiges Scheitern und Misserfolgserlebnisse, Freude am Lernen verelendet, vom Selbstbewusstsein des Kindes ganz zu schweigen. Stattdessen sollte jedes Kind individuell und kindgerecht in gut durchmischten Lerngruppen lernen können, wie dies an Gesamtschulen möglich ist. Dafür müssen diese jedoch politisch und gesellschaftlich aufgewertet und unterstützt werden!“ 

 

Gesamtschulen bieten die Chance des gemeinsamen Lernens. Sie bilden innerhalb der Schulgemeinschaft eine Gesellschaft im Kleinen ab, in der jeder lernt, mit- und füreinander einzustehen. Rücksichtnahme, Respekt und sozialer Umgang miteinander sind nicht nur Werte der Inklusion, sondern angesichts der aktuellen Entwicklungen grundlegende Kompetenzen in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft. Schulische Biografien von Kindern auszurichten auf den Wettkampf ums Gymnasium und die Aussicht auf Auffangschulen für die Verbleibenden, wird schon in jungen Jahren gespaltene Gesellschaftsbilder produzieren.

 

Die GEW fordert daher insbesondere die SPD und die Grünen auf, sich hier grundsätzlich schulpolitisch zu bekennen. Die Weichen, die aktuell für die Wiesbadener Schullandschaft gestellt werden (sollen), sind derart nachhaltig zu betrachten, dass davon auszugehen ist, dass die bestehenden Pläne zu tiefgreifenden Verwerfungen in der Wiesbadener Schullandschaft führen werden.

 

Die GEW hält diese Entwicklung sowohl für schul- als auch gesellschaftspolitisch für sehr gefährlich und fordert ein klares Bekenntnis zu Gesamtschulen sowie ein starkes, politisches Signal für das gemeinsame Lernen in Wiesbaden.