Digitale Verantwortungslosigkeit

Presseerklärung der GEW Wiesbaden Rheingau sowie der GEW Südhessen zur Schulgesetzänderung 2021

Das Kultusministerium erstellt ein europarechtlich fragwürdiges und im Ergebnis unanwendbares Schulgesetz

 

Wer den Gesetzesentwurf des Kultusministeriums liest, stolpert an vielen Stellen über fast ritualhafte Wiederholungen: „kann statt in Präsenzform auch in elektronischer Form stattfinden.“ Und in der Gesetzesbegründung lautet die Zauberformel des Ministeriums: „hat sich bewährt. Aus diesem Grund soll diese Option beibehalten werden, ohne dass die Regelung neu befristet wird.“ 

Gemeint ist jeweils die Durchführung von Konferenzen, Besprechungen und Sitzungen nahezu aller Zusammenkünfte in Schulen - von der Schülervertretung bis zur Schulkonferenz.

Die Brisanz steckt dabei in Dreierlei:

  • dem Umfang der Maßnahmen für eben nahezu alles und jedes
  • der Gleichförmigkeit
  • dem Wörtchen „kann“.

Zusammengenommen kommt die GEW zu dem Ergebnis:
Es bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit, insbesondere der Europarechtskonformität des vorgelegten Schulgesetzes. 

Hierbei stützt sich die GEW neben der eigenen Expertise auf das Gutachten der in IT- und Datenschutzrecht renommierten Kanzlei SPIRIT LEGAL – erstellt von Peter Hense und Franziska Weber. Im Folgenden sind deren rechtlichen Bewertungen kursiv eingefügt.

Der Versuch des Kultusministeriums, mit dem vorgelegten Entwurf eine Spezifizierung zur DSGVO zu schaffen, scheitert bereits handwerklich derart grundlegend, dass die Folge eine erhöhte Rechtsunsicherheit auf Seiten der weiterhin allein verantwortlichen Schulleitungen sein wird. 

Das Kultusministerium schickt seine nachgeordneten Stellen - konkret jede einzelne Schule – und deren Schulleiter:innen in weiterhin ungeklärte Situationen.

Das Ministerium verschlimmert die Situation für die Schulen sogar: 

„Aus Perspektive des Rechtsanwenders [hier: Schulleitungen] droht durch den nichtssagenden und damit redundanten gesetzlichen Wortlaut eine effektive Absenkung des datenschutzrechtlichen Schutzniveaus (…). Die in dem Gesetzesentwurf enthaltenen Normen, die die optionale Durchführung in „elektronischer Form“ regeln, stellen damit keine eigenständige Rechtsgrundlage dar, auf die sich die Schule bzw. die Schulleitung berufen können.“

Wer mit der immer gleichen, magisch anmutenden Beschwörungsformel im rechtlich Vagen bleibt, agiert verantwortungslos und den Herausforderungen und Belastungen der Schulleitungen nicht ansatzweise angemessen:

„Teilweise sind in diesem Zusammenhang von der Schule weitere Abwägungsentscheidungen hinsichtlich der Erforderlichkeit (z.B. Art der Daten, generelle Erforderlichkeit der Maßnahme, zu wählende Unterrichtsabschnitte innerhalb eines Konzepts) zu treffen. Dies kann neben der bedenklichen Verlagerung komplexer datenschutzrechtlicher Beurteilungen auf die Schulleitung und der damit einhergehenden Verfehlung des selbstgesteckten Ziels von mehr Rechtssicherheit und Praktikabilität im Schulalltag im Hinblick auf die Verarbeitung von Daten im Beschäftigungskontext nach Art. 88 DSGVO europarechtswidrig sein.“

Das betrifft insbesondere die Übertragung von Bild und Ton im Rahmen des Unterrichts (sog. Live-Streaming).

Der vorliegende Gesetzesentwurf ist für die GEW daher nicht minder verwunderlich, da genau dies dem Ministerium bereits vom Verwaltungsgericht Wiesbaden mitgeteilt wurde, als das Gericht aufgrund des höchst fragwürdigen Agierens des Kultusministeriums während der Corona-Pandemie dessen Rechtsauffassung dem EuGH zur Prüfung vorlegte (https://verwaltungsgerichtsbarkeit.hessen.de/pressemitteilungen/vorlage-zum-europäischen-gerichtshof-zur-datenschutzgrundverordnung-ds-gvo-vor - zitiert aus dem dazugehörigen Beschluss): 

„Die Ansicht, eine nationale Norm dahingehend auszulegen, Art. 88 Abs. 2 DS-GVO müsse insoweit von dem Verantwortlichen berücksichtigt werden, geht schon 
insoweit fehl, als die Verordnung gerade fordert, dass die Normen selbst in ihrem 
Regelungsumfang angemessene und besondere Maßnahmen zur Wahrung der menschlichen Würde, der berechtigten Interessen und der Grundrechte der betroffenen Person umfassen, die auch die Überwachungssysteme am Arbeitsplatz beinhalten. Dementsprechend fordert Art. 88 Abs. 2 DS-GVO gerade eine notwendige Beachtung im Regelwerk durch den nationalen Gesetzgeber (…).“

Damit ist nun aber auch der Versuch des Ministeriums gescheitert, dem Abhilfe zu schaffen:

„Mit diesen unspezifischen gesetzlichen Bestimmungen wird vielmehr suggeriert, jeglicher Einsatz von Videokonferenzsystemen wäre auf wunderbare Weise (datenschutz-)rechtlich rechtmäßig und zulässig.“

Sollte das Gesetz, wie vorgelegt, verabschiedet werden besteht nach wie vor keine Rechtsgrundlage für die digitale Datenverarbeitung in Schulen. 

Wer (juristisch) zaubern will, sollte dies auch können.

Die GEW fordert:

  • Keinen Schnellschuss, der die pandemische Ausnahesituation auf unbestimmte Situation verlängert.
  • Schaffung der Konformität mit der DS-GVO.
  • Die Wahrung und Achtung des Grundrechts der informationellen Selbstbestimmung aller Betroffenen, um bei diesen auch Akzeptanz zu finden.
  • Pädagogische Freiheit auch bei der Gestaltung des digitalen Lernraums.
  • Klare Regelungen für eine nachhaltige Digitalisierung.
  • Keine Verlagerung der Klärung grundlegender, datenschutzrechtlicher Fragen auf die einzelnen Schulen.

 

Stellungnahme der von der GEW beauftragten Rechtsanwaltsozietät - Herr Peter Hense von Spirit Legal zum Gesetzentwurf:

“Dem Gesetzentwurf mangelt es an handwerklicher Präzision, stellenweise wird der fachkundige Leser überrascht, wie wenig oder wie oberflächlich sich die Verfasser mit der Materie überhaupt beschäftigt haben. Es wäre ein Leichtes gewesen, der notwendigen Digitalisierung des Schulbetriebs in Hessen eine solide gesetzliche Basis zu geben und den unerträglichen rechtlichen Schwebezustand für alle Beteiligten zu beenden. So ambitionslos, wie sich der Gesetzentwurf liest, scheinen die Verfasser dieses Ziel jedoch nicht ernsthaft zu verfolgen. Es geht bei unserer Kritik nicht um technische Feinheiten und auch nicht nur um Datenschutzrecht, sondern um grundlegende verfassungsrechtliche Vorgaben zum Persönlichkeitsrechtsschutz sowie zur Klarheit, Verständlichkeit und Bestimmtheit von gesetzgeberischen Normen. Von einem Ministerium des Bundeslandes, das 1970 in Deutschland einst mit dem ersten Landesdatenschutzgesetz ein Vorreiter bei der Digitalisierung des Rechts war, kann und darf man mehr erwarten. Wenn man den gleichen fachlichen Maßstab, mit dem Leistungen von Schülerinnen und Schülern bewertet werden, diesen Gesetzentwurf bewerten würde, hätte sich das Kultusministerium bestenfalls das Prädikat ‘mangelhaft’ erarbeitet.”

 

Über Spirit Legal:

Spirit Legal ist eine Rechtsanwaltssozietät mit Sitz in Leipzig. Die Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte arbeiten spezialisiert für Unternehmen, Behörden und öffentliche Einrichtungen in den Bereichen Technologie-, IT-, Medien- und Datenschutzrecht, Presse- und Äußerungsrecht, im privaten und öffentlichen Wirtschaftsrecht sowie im Wettbewerbsrecht, Markenrecht und Urheberrecht.