Bildungsgerechtigkeit in Wiesbaden

Rede von Manon Tuckfeld zum 01. Mai 2019 (DGB-Kundgebung am Kranzplatz Wiesbaden)

Rede von Manon Tuckfeld zum 1. Mai 2019

Bildungsgerechtigkeit in Wiesbaden

 

Bildungsgerechtigkeit– ein großes Wort

Gerechtigkeit – Was ist gerecht?

Für die einen ist gerecht, dass der, der leistet besser gestellt ist.

Für die anderen ist das nicht so.

Viele landen ganz schnell bei der Frage der Chancengleichheit.

Gleiche Chancen für alle sind doch gerecht. Sind sie es?

 

Bildung– was ist das?

Bildung wird von Kindesbeinen an mitgegeben.

Wie isst das Kind? Wie kleidet es sich, wie wird es gekleidet? Wohin fährt es in den Urlaub, welche Sprachen hat es schon mal gehört? Haben Papa und Mama Bücher im Schrank? Hat das Kind ein eigenes Zimmer, in dem es ungestört lernen kann? 

 

Bildung beginnt mit der ersten Stunde nach der Geburt.

 

Und jetzt wird erkennbar, dass alle zu kurz springen, die auf die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzung das Wort Chancengleichheitoder Gerechtigkeit setzen und meinen, dass es damit getan sei.

 

Bildung wird in allererster Linie vererbt. Und zwar schon vor der Geburt des Kindes. 

Die zu Recht in der Kritik stehende Pisa-Studie kommt immer wieder für Deutschland zu diesem Ergebnis. Kitas und Schulen vermögen nicht der vererbten Ungleichheit entgegenzusteuern.

 

Wen dem so ist, ist es die Aufgabe einer auf den Werten von Gleichheit, Schwesterlichkeit und Freiheit beruhenden Gesellschaft vehement dieser vererbten Ungleichheit entgegenzusteuern.

 

Wie behebt mensch Ungleichheit? Durch Gleichheit? Nein, durch Ungleichheit!

  • durch unterschiedlich intensive Förderung
  • durch differenzierte Zuwendung
  • durch bedarfsgerechte finanzielle Unterstützung

Also durch ein Mehr für die, die von Geburt an auf der Schattenseite dieser Gesellschaft stehen. 

 

Aber dieser Weg ist kompliziert.

 

Dass die, die mehr brauchen, auch mehr bekommen sollen, widerspricht dem Leistungsgedanken und den Prinzipien einer auf Marktkonformität, Konkurrenz und Gewinn aufgebauten Gesellschaft.

 

Welche Antworten geben Parteien, die sich aufgeklärt wähnen? 
Wie retten sich Parteien, die es den bürgerlichen Werten von Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit recht machen wollen? 

 

Sie wählen den Ausweg der Freiheit.

 

Frei sollen die Eltern sein in der Umsetzung ihres Wunsches für den Bildungsgang ihrer Kinder.

 

Frei?

 

So frei, dass die Eltern davon absehen sollen, dass ihr Kind bereits vor der Einschulung abgehängt ist, weil es mit dem Spracherwerb zurück ist?

So frei, dass die Eltern davon absehen sollen, dass ihr Kind nicht die Kita besuchen konnte, da die kostenlose Kita für alle noch eine Zielvorstellung, aber keine Wirklichkeit ist.

So frei, dass die Eltern davon absehen sollen, dass für ihr Kind die regelmäßige Mahlzeit nach der Schule und die Aktivität beim Sport am Nachmittag nicht stattfinden?

 

Nein anders frei – nur frei in der Wahl!

 

Mit dieser freien Wahl aber reproduziert sich die Ungleichheit, die fehlende Gerechtigkeit aufs Neue.

 

Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste. Und was ist das Beste in der Schulbildung?  Das Gymnasium. Ist jemandem zu verdenken, dass er oder sie das vermeintlich Beste für das eigene Kind wählt?

 

Nein! 

 

Den einzelnen Eltern nicht – aber es ist einer Gesellschaft, den politisch Verantwortlichen, zu verdenken, dass diese im Wissen um die ungleichen Voraussetzungen der Kinder ein auf gleiche Leistung ausgelegtes System anbieten. 

 

In Wiesbaden sollen zwei neue Gymnasien gebaut werden.

  • Dadurch wird bewusst in Kauf genommen, dass 20 % der in der 5ten Klasse auf das Gymnasium kommenden Schüler*innen aus dem System fallen.
  • Die Not der Kinder wird in Kauf genommen
  • Not der Pädagogen
  • und die Not der Schulleitung der IGSen und Haupt- und Realschulen, die diese 20% aus dem System Gymnasium Gefallenen aufnehmen sollen

 

Dieses System wird nicht nur nicht erkannt 
– es wird durch die Entscheidung zwei neue Gymnasien bauen zu wollen, gefördert.

Denn neue Gymnasien heißt auch mehr Platz für Kinder, die scheitern.

 

Dass diese beiden neuen Gymnasien auch noch in Steinwurfweite von bestehenden Integrierten Gesamtschulen gebaut werden sollen, setzt dem Unsinn die Krone auf.

 

  • Durch diese Entscheidung wird den IGSen die Grundlage entzogen. 
    Die Schüler*innen wählen die Schulform nicht an und haben noch ganz in der Nähe das bevorzugte Gymnasium. 

 

Die Entscheidung für ein Gymnasium ist kein Naturgesetz, sondern Ergebnis einer jahrzehntelang verfehlten Politik, die das Gymnasium systematisch bevorzugt. 

 

Die IGS ist auch ein Gymnasium.
Aber das wollen diejenigen politisch Verantwortlichen, die sich für den Neubau zweier Gymnasien ausgesprochen haben, nicht mehr wahrhaben.

 

Eine IGS lebt von der Vielfalt. Kinder sind unterschiedlich begabt – alle Begabungen zusammen bilden die Grundlage für die Idee und eine gut lebbare Praxis einer IGS.

Zieht mensch viele SuS von der IGS ab, so wird diese ihres Geistes und ihres Konzeptes beraubt.

 

Aber viele Bildungsbürger wollen die Vielfalt der IGSen nicht 
– für sie ist Vielfalt, ob sie einen roten oder schwarzen SUV fahren. Schmuddelkinder, Kriegsflüchtlinge, Migranten gehören nicht dazu. 
– vor dieser Vielfalt und Realität ist das Kind aus gutem Hause zu schützen.

 

Hier wird früh angelegt, was sich gesellschaftlich reproduziert. 

 

Die IGSen werden zu konzeptionellen Restschulen, die alles auffangen, was nicht gymnasial zu sein scheint.

 

Womit wird es begründet?

 

Mit der Freiheit!

 

Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit stehen miteinander in Verbindung – wird der eine Aspekt zu dominant, sterben die anderen.

 

Für die Kommunalpolitik heißt dass:

Schaffen wir IGS,

schaffen wir im positiven Sinne Ungleichheit,

unterstützen wir das System, das die strukturellen Nachteile von vielen Kindern 

durch strukturelle Vorteile in integrierten Gesamtschulen ausgleicht.