Zur rechtlichen (Un-)Zulässigkeit des Live-Streaming von Lehrer*nnen

Kosteneffizient, wirkungslos, Persönlichkeitsrechte missachtend

Die GEW sichert Kolleg*innen Rechtsschutz zu! Bei Bedarf bitte melden. 

Digital 1-2-3- aufgepasst:

Es ist nicht nur eine völlig abwegige pädagogische Idee anzunehmen, Unterricht könne dadurch ersetzt werden, dass eine Kamera auf das Gesicht der Lehrkraft gerichtet werde und die dem Stream aufmerksam folgende Schüler*in könne sodann über die verzerrten Übertragungen und die Wortfetzen einen Bildungserfolg verbuchen. Es ist auch eine völlig abwegige Idee zu glauben, dass diese Vorstellung vor dem Hintergrund der technischen Ausstattung von Schule überhaupt möglich ist. 

Aber wem schaden diese abwegigen Vorstellungen?

Sie schaden:

  • Den Lehrerkolleg*innen - denn sie werden damit konfrontiert, dieses Streaming umsetzen zu sollen. 
  • Den Schulleitungen, die ihre Kolleg*innen anweisen sollen, dies umzusetzen.
  • Den Schüler*innen, denen weisgemacht wird, dass das Unterricht sei und
  • den Eltern, die sich in Sicherheit dahingehend wähnen sollen, dass alles für ihr Kind getan werde.

Die Geister die ich rief…
Ausgelöst wurde das Ganze mit dem Schreiben vom 23.07.2020 und durch die Verfügung  vom 20.08.2020 (https://kultusministerium.hessen.de/schulsystem/umgang-mit-corona-schulen/fuer-schulleitungen/schreiben-schulleitungen/einsatz-digitaler-werkzeuge-im-schulalltag), in der vollmundig der digitale Durchgriff verordnet wird. Damit einhergehend wird die Bildungsoption für Schüler*innen, die zur Risikogruppe gehören, zum Nulltarif propagiert. Möglich soll dies über die Nutzung des Direktionsrechts sein, das eine völlige Überdehnung im Hinblick auf seine Reichweite und Durchgriffskraft erfährt. Beamt*innen, so die Annahme, geben gleichsam mit Erhalt ihres Beamtenstatus‘ ihre Persönlichkeits- und Grundrechte ab: das Recht am eigenen Wort und Bild, die informationelle Selbstbestimmung, die eigenen biometrischen Daten, die Datenschutzgrundverordnung. Alles weicht, so jedenfalls die Position des HKM, dem dienstrechtlichen Durchgriff. 

Ausgangspunkt der Überlegungen des Ministeriums ist, ein Unterrichtsangebot für Schüler*innen, die einer Risikogruppe angehören, zur Verfügung zu stellen. Für das Ministerium ist der Einsatz des Livestreaming via Videokonferenzsysteme quasi eine alternativlose Möglichkeit. So wurde es wohl dem hessischen Datenschutzbeauftragten geschildert, der daraufhin eine Generalfreigabe für alles erteilte, was technisch möglich ist. 

Die Möglichkeit, Unterricht auch jenseits des Livestreams zu realisieren, wird zwar in der oben genannten Verfügung noch erwähnt, aber nicht mit Entlastungsstunden hinlegt. Die Lehrkraft „darf“ damit auch auf eigene Kosten Hausbesuche bei den Schüler*innen oder andere alternative (nicht vergütete) Unterrichtsmodelle entwickeln. Aber wer will das schon zum Nulltarif. Überhaupt: dass Bildung Geld kostet – und zwar gerade in Corona-Zeiten – wird nicht nur nicht gedacht, sondern auch nicht gewünscht.

Gegenwehr tut not!
Die Frage ist eine echte Grundsatzfrage: ist das Direktionsrecht so durchgreifend, dass es selbst Grundrechte zur Seite schiebt? Wenn dem so wäre, könnten wir ab sofort bei jeder Vorgabe unseres Dienstherrn nur noch strammstehen. Reicht die vermeintlich dienstliche Erforderlichkeit, damit ein Datenschutzbeauftragter sich seines eigenen Auftrages entledigen kann und aufhört, die Daten zu schützen, sondern eine generelle Freigabe für alles erteilt, was digital möglich ist? Dann können wir auch auf diese Referenz verzichten. Schützt doch dieser Datenschützer dann eher den Dienstherrn als die Daten der Kolleginnen und Kollegen.

Ganz grundsätzlich…
Und da die Frage eine echte Grundsatzfrage ist, wird die GEW nicht nur auf die Einsicht der Schulleiter*innen hoffen, denen zum Teil – wie kolportiert wird –, diese Rechtsauffassung der Durchgriffsmöglichkeiten des Direktionsrechts auch nicht ganz geheuer ist, sondern selbst das Referenz- und Verweissystem von Ministerium <–> Datenschutzbeauftragten <–> Schulleitung aufzubrechen versuchen. 

In diesem Zusammenspiel schiebt nämlich der eine alles auf den anderen. Das Ministerium beruft sich auf den Datenschutzbeauftragten, der alles freigegeben hat. Der Datenschutzbeauftragte beruft sich auf das Ministerium, das von der Not berichtet, Unterricht nicht anderes umsetzen zu können. Und willige Schulleitungen berufen sich auf das ihnen übertragende Recht, Unterricht im Livestream per Direktionsrecht anweisen zu können.

Diesem Verantwortungsverschiebebahnhof zum Trotz hat die GEW Südhessen geprüft, inwieweit kollektivrechtliche (also: über die Personalräte auf allen Ebenen), individualrechtliche und dienstrechtliche Abwehrmöglichkeiten gegeben sind. 

In dem von der GEW BV Südhessen beauftragten Gutachten der Rechtsanwälte Peter Hense, Franziska Weber und Dr. Diana Ettig vom Oktober 2020 sind bemerkenswerte Statements zu lesen, die die GEW darin bestärken, diesen Angriff auf die Persönlichkeitsrechte von Lehrkräften zurückweisen zu können.

„Die Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung kann sich zum Beispiel ergeben aus einer fehlenden Rechtsgrundlage (Art. 6, 9 DSGVO), aufgrund fehlender Datenschutzinformationen (Art. 12 ff. DSGVO), einer nicht durchgeführten DSFA (Art. 35 DSGVO), inakzeptablen Datensicherheitsrisiken (Art. 32 DSGVO), 

einer rechtswidrigen Datenübermittlung in ein Drittland (Art. 44 DSGVO) oder generell einer sonst unrechtmäßigen, intransparenten oder unfairen Datenverarbeitung (Art. 5 Abs. 1 DSGVO). 

Dass Weisungen zum Einsatz rechtswidriger Systeme selbstverständlich auch eine Verletzung der pädagogischen Freiheit der Lehrerinnen und Lehrer, wie sie in § 86 des Hessischen Schulgesetzes (HessSchulG) verankert ist, mit sich bringen, liegt auf der Hand. Rechtswidrige Weisungen sind immer unnötig und unzumutbar, sie konterkarieren die Unterrichts- und Erziehungsarbeit und stehen im offenen Widerspruch zum schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag (§§ 1, 2 HessSchulG).

Rechtsgrundlage der Datenverarbeitung

Nach Art. 6 DSGVO ist die Datenverarbeitung nur dann rechtmäßig, wenn eine der in Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. a) – f) DSGVO genannten Rechtsgrundlagen erfüllt ist. Die Rechtsgrundlage muss der datenschutzrechtlich Verantwortliche gegenüber dem Betroffenen vorweisen können. Datenschutzrechtlich verantwortlich ist diejenige natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (Art. 4 Nr. 7 DSGVO). Im Falle einer Weisung der Schulleitung an eine Lehrkraft, auf welche Art und Weise Live-Streaming einzusetzen ist, werden sowohl die Zwecke als auch die Mittel der Datenverarbeitung bestimmt. Gegenstand der Datenverarbeitung sind unter anderem personenbezogene Daten der Lehrkraft im Sinne des Art. 4 Nr. 1 DSGVO; nämlich das gesprochene Wort (Stimme) und Bild (Videoübertragung), sowie weitere Metadaten (z. B. Datum, Uhrzeit). Diese Informationen beziehen sich auf eine zumindest identifizierbare natürliche Person und qualifiziert sie zum datenschutzrechtlichen Betroffenen. Die Art der Datenverarbeitung ist abhängig von der Art und Weise, in der das Live-Streaming einzusetzen ist. Erfolgt sie mit seitens der Schule zur Verfügung gestellten Videokonferenzsystemen (Hard- sowie Software) werden personenbezogene Daten der Lehrkraft erhoben und an die nicht präsenten Schüler übermittelt. 

Als potentielle Rechtsgrundlagen kommen in Betracht:

  • Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. d) DSGVO, wenn die Datenverarbeitung erforderlich ist, um lebenswichtige Interessen einer anderen natürlichen Person zu schützen sowie 
  • Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. e), Abs. 3 S. 1 lit. b) DSGVO, wenn die Datenverarbeitung für die Wahrnehmung einer Aufgabe erforderlich ist, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde, wie beispielsweise aufgrund der  bestehenden Schulpflicht der nicht präsenten Schülerinnen und Schüler, sowie
  • Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. b) DSGVO in Verbindung mit den spezifischeren Regelungen im Beschäftigungskontext, nämlich Art. 88 DSGVO, § 23 HDSIG, wenn die Datenverarbeitung für die Durchführung des Beschäftigungsverhältnisses beziehungsweise zur Durchführung innerdienstlicher planerischer, organisatorischer, sozialer und personeller Maßnahmen erforderlich ist.
  • Maßstab ist daher stets die Verhältnismäßigkeit der konkreten Weisung. Bestehen mildere, ebenso geeignete Mittel um den angestrebten Zweck (Unterrichten nicht präsenter Schülerinnen und Schüler) zu erreichen, zum Beispiel der Versand von multimedialen Lernmaterialien oder persönliche Gesprächen / Telefonate dürfte es bereits an der Erforderlichkeit der Datenverarbeitung durch ein Live-Streaming fehlen. Maßgeblich ist daher eine Einzelfallprüfung einer konkreten Weisung.

Daneben ist nach spezifischem Landesrecht gemäß § 22 Abs. 2 S. 1 HDSIG die Übermittlung personenbezogener Daten durch öffentliche Stellen (z.B. Schulen) an nicht öffentliche Stellen (z.B. Videokonferenzanbieter) nur zulässig, wenn

  1. sie zur Erfüllung der in der Zuständigkeit der übermittelnden Stelle liegenden Aufgaben erforderlich ist und die Voraussetzungen vorliegen, die eine Verarbeitung nach § 21 zulassen würden,
  2. der Dritte, an den die Daten übermittelt werden, ein berechtigtes Interesse an der Kenntnis der zu übermittelnden Daten glaubhaft darlegt und die betroffene Person kein schutzwürdiges Interesse an dem Ausschluss der Übermittlung hat oder
  3. es zur Geltendmachung, Ausübung oder Verteidigung rechtlicher Ansprüche erforderlich ist und der Dritte sich gegenüber der übermittelnden öffentlichen Stelle verpflichtet hat, die Daten nur für den Zweck zu verarbeiten, zu dessen Erfüllung sie ihm übermittelt werden.

Wird seitens des Verantwortlichen ein Videokonferenztool vorgegeben und werden dem Anbieter dieses Tools die seitens des Verantwortlichen erhobenen Daten durch Offenlegung übermittelt, müssten – vorausgesetzt, dass im Falle der Nummer 1 eine Übermittlung zur öffentlichen Aufgabenerfüllung erforderlich ist – die strengen Voraussetzungen des § 21 HDSIG erfüllt werden. Das ist bei einer summarischen Prüfung nicht ersichtlich. Im Falle der Nummer 2 würde die Darlegung eines schutzwürdigen Interesses an dem Ausschluss der Übermittlung die Zulässigkeit ausschließen. Letzteres kommt insbesondere in Betracht bei einer Übermittlung der Daten in ein Drittland, in welchem unzureichende datenschutzrechtliche Bedingungen herrschen. Dies hat der Europäische Gerichtshof kürzlich für die USA festgestellt (EuGH, 16.07.2020, Az. C-311/18 – Schrems II) und betrifft die klassischen Videokonferenz-Tools wie Zoom, GoToMeeting, WebEx, Microsoft Teams.

Datenübermittlung in unsicheres Drittland

Infolge der EuGH-Entscheidung zu Schrems II ist eine rechtmäßige Datenübermittlung an ein Drittland ohne Angemessenheitsbeschluss nach Art. 45 Abs. 3 DSGVO noch geeigneten Garantien nach Art. 46 DSGVO praktisch ausgeschlossen. Mögliche Ausnahmen, wie eine ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen Lehrkräfte, ergeben sich aus Art. 49 DSGVO. Aufgrund der hohen Anforderungen dürften diese nicht einschlägig sein und bedürften einer Einzelfallprüfung. Eine Weisung, die zum Einsatz eines Videokonferenzsystems verpflichtet, welches mit einer Datenübermittlung in ein Drittland verbunden ist, ist damit rechtswidrig (Art. 44 ff. DSGVO).

Fehlende oder unzureichende Datenschutzinformationen

Auch fehlende oder unzureichende Datenschutzinformationen können zur Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung führen. Der Verantwortliche ist bei der Erhebung personenbezogener Daten verpflichtet, Datenschutzinformationen zu erteilen. Der Umfang der Verpflichtung ergibt sich aus Art. 13 DSGVO. In der Regel werden den betroffenen Lehrkräften keine Datenschutzinformationen erteilt werden. Je nach eingesetztem Videokonferenztool ist eine Erfüllung der in Art. 13 DSGVO genannten Mindestinformationen auch nicht möglich; nämlich dann, wenn das gewählte Videokonferenztool Informationen nicht bereitstellt. 

Datenschutzfolgeabschätzung
Eine Datenschutzfolgeabschätzung (DSFA) ist ein Verfahren, anhand dessen der Verantwortliche eine bestimmte Datenverarbeitung, die voraussichtlich zu einem hohen Risiko für die betroffenen Personen führt, beschreibt, ihre Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit bewertet und im Ergebnis ihre Risiken für die betroffenen Personen durch die Ermittlung von Gegenmaßnahmen zumindest reduziert. Das Verfahren einer Datenschutz-Folgenabschätzung soll auch in Fällen eines „voraussichtlich hohen Risikos“ ein angemessenes Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen sicherstellen und den Verantwortlichen bei der Erfüllung seiner allgemeinen Rechenschaftspflicht nach Art. 5 Abs. 2, Art. 24 Abs. 1 DSGVO unterstützen. Das Ergebnis einer DSFA entscheidet über die Notwendigkeit einer vorherigen Konsultation der Aufsichtsbehörde nach Art. 36 DSGVO. Die Aufsichtsbehörde ist bereits dann zu konsultieren, wenn Zweifel bestehen, ob ein “hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen” besteht. Ein “hohes Risiko” als Auslöser einer DSFA kann bereits die Intransparenz der Verarbeitung bei gängigen Videokonferenztools sein, die zumeist rechtskonformer Datenschutzinformationen ermangeln. Aber auch ein (unzulässiger) Drittstaatentransfer, eine besondere Intensität der Videobeobachtung, die Verarbeitung von Daten von Kindern sowie die Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten sowie Missbrauchsmöglichkeiten Dritter sind geeignet, als “hohes Risiko” eine DSFA zu erzwingen. Nach unseren bisherigen Erfahrungen dürfte der geplante Einsatz handelsüblicher Videokonferenzsoftware ohne Einschränkung eine DSFA erfordern, da diese eine systematische Beobachtung natürlicher Personen ermöglichen (von den Aufsichtsbehörden konkretisiertes Regelbeispiel des Art. 35.3.c DSGVO).“

 

Auch Schüler*innen, die zur Risikogruppe gehören, haben einen Anspruch darauf, gut unterrichtet zu werden. Zu den Rechten der Schüler*innen würde im Übrigen auch gehören, ihnen nicht nur die pseudo-freiwilligen Einwilligungserklärungsvordrucke vorzulegen, sondern eine echte Alternative von Unterricht anzubieten. Alles andere ist nicht mehr als eine Erklärung unter Druck (und damit datenschutzrechtlich belanglos). Eine Alternativlosigkeit, die sie ins datenverarbeitende System zwingt. Denn sonst hätten sie ja gar keinen Unterricht. 

Guter Unterricht ist individuell und persönlich und eine gemeinsame Arbeit mit den Schüler*innen. Guter Unterricht ist kein Livestream. Guter Unterricht kostet Zeit und Geld.