Rede der Landeselternbeiratsvertreterin Hella Lopez

vor dem Hessischen Kultusministerium auf der Abschlusskundgebung am 17.6.09

Wir fordern die hessische Politik auf, endlich ihre Hausaufgaben zu machen und nicht länger rund 700.000 hessischen Schülerinnen und Schülern die Rechnung für diesen Mangel an Fleiß bei der Erledigung Ihrer Hausaufgaben bezahlen zu lassen.

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern, wir haben uns heute aufgemacht, um das einzufordern, was unseren Kindern schon lange zusteht: Eine bessere und gerechtere Bildung. 

Die Politik in Hessen wird aufgefordert, der Bildung endlich die Priorität einzuräumen, die Ihr zusteht und die tatsächlich zu Verbesserungen an Hessens Schulen führt. Es muss Schluss damit sein, den Schulen immer wieder neue Aufgaben und Konzepte aufzubürden ohne die benötigten finanziellen oder personellen Rahmenbedingungen dazu bereit zu stellen. Es sind keine Billiglösungen oder Schnellschüsse gefragt, sondern eine Ausstattung der Schulen mit professionellem Personal, modernen Raumkonzepten und zeitgemäßen Lehr- und Lernmitteln.  

Statt einem halbherzigen Herumdoktern an den vorhandenen Schulstrukturen – von der Dreigliedrigkeit über die Schulformvielfalt zum Schulformchaos -  wird ein umfassendes neues Bildungskonzept benötigt, das den Anforderungen der Schulen vor Ort sowie dem individuellen Förderbedarf des einzelnen Kindes gerecht wird. Individuelle Förderungen sind aber kaum noch möglich. Administrative Regelungen und hierarchische Steuerungen bestimmen momentan den Schulalltag. In der heutigen Zeit können wir es uns in Hessens Schulen nicht erlauben, auch nur ein einziges Kind zu verlieren!  

Dies bedeutet für uns als Eltern im Einzelnen: 

Wir hessischen Eltern möchten mit unseren Kindern bestimmen und entscheiden, ob sie in acht oder neun Jahren zum Abitur gelangen können. Der Landeselternbeirat vertritt mit der Mehrheit der Kreis- und Stadtelternbeiräte in Hessen die Position, dass eine Rückführung der Sekundarstufe I auf sechs Jahre Schulzeit zur Lösung der Probleme des verkürzten gymnasialen Bildungsganges unerlässlich ist. Die Verkürzung MUSS in der Oberstufe stattfinden und jedem einzelnen Schüler die Möglichkeit geben, in 12 oder 13 Jahren zum Abitur zu gelangen, und zwar unabhängig von der gewählten Schulform. Nur so kann auch die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen in der Sekundarstufe I gewährleistet werden. Ebenso ist damit gewährleistet, dass Schülerinnen und Schüler nach erfolgreicher Beendigung der 10. Klasse am Gymnasium den Realschulabschluss erreicht haben. Dies ist aber in G8 derzeit durch einen Beschluss der Kultusministerkonferenz nach Erreichen der 9. Klasse (der früheren 10) nicht der Fall.  

Ein nennenswerter Teil der hessischer Schülerinnen und Schüler braucht trotz des verkürzten gymnasialen Bildungsganges doch 13 Jahre zur Erlangung des Abiturs: das sind nämlich all diejenigen, die durch Nichtversetzung eine Klasse wiederholen müssen. Sitzenbleiben ist in Zeiten moderner pädagogischer Konzepte, ein Relikt des vergangenen Jahrhunderts und wenig förderlich. Bundesweit kosten Klassenwiederholungen jedes Jahr rund 3,7 Milliarden Euro, das sind sieben Prozent des gesamten Bildungsbudgets. Jeder Schüler, der die Schule ohne Abschluss verlässt und in einer berufsbildenden Maßnahme oder anderen Unterstützungsmaß- nahmen aufgefangen wird, kostet pro Jahr 15.000 Euro. Das sind bundesweit 5,6 Milliarden Euro für Reparaturmaßnahmen am Bildungssystem. Sinnvoller wäre es doch, das Geld gleich in die Bildung zu investieren. 

Dringend erforderlich ist der flächendeckende Ausbau der Schulen zu Ganztagsschulen, nur dort kann eine adäquate altersgemäße Rhythmisierung des Unterrichtes erfolgen. Nur so haben Lehrerinnen und Lehrer die Zeit, unsere Kinder in erforderlichem Maß zu fördern und zu fordern. Und nur durch individuelle Förderung von Anfang an kann der bestmögliche Bildungsabschluss ermöglicht werden. Die viel zu hohen Klassengrößen, die immer mehr bis zu den absoluten Obergrenzen ausgeschöpft werden, um Lehrerstellen zu sparen, machen einen qualitativ hochwertigen Unterricht in der Praxis unmöglich. Außer Frontalunterricht gibt es dabei kaum andere Möglichkeiten und Unterrichtsmethoden. Aus diesem Grund ist es unbedingt erforderlich, die Höchstgrenzen für die Klassengrößen in allen Schulformen herabzusetzen. Eine spürbare Erhöhung der Anzahl der Lehrerstellen muss vorgenommen werden. Dieser Bedarf besteht insbesondere in der Grundschule, dort werden die Grundlagen für die Bildung unsere Kinder gelegt. Die Abschaffung der Sternchenregelung ist uns zugesagt, wird aber in den Staatlichen Schulämtern noch immer nicht umgesetzt. Für fast alle Schüler, die nicht die Klasse 1 oder 5 besuchen gehört es in weiten Teilen von Hessen zum Standard, in zu großen Klassen unterrichtet zu werden.  

Die individuelle Förderung von Kindern ist im hessischen Schulgesetz verankert, individuelle Förderpläne, für leistungsstarke wie für schwache Kinder, sind dort vorgesehen. Das ist bei den real existierenden Klassengrößen und der momentanen Lehrerversorgung jedoch unmöglich.  

Förderpläne werden, wenn überhaupt, nur unzureichend aufgestellt, kontrolliert wird das nicht! Eltern erhalten keine frühzeitigen und qualifizierten Auskünfte, dass eine Förderung nötig ist. Lehrerstunden für die Förder- maßnahmen stehen nicht ausreichend zur Verfügung.  

Auch Unterrichtsausfall ist insbesondere an den Oberstufen die Regel. Dieser Zustand ist mit Blick auf das eingeführte Landesabitur nicht tragbar. Wie sollen die Schülerinnen und Schüler ein gutes Abitur ablegen, wenn Sie nicht unterrichtet werden? Es ist dringend erforderlich, die Zahl der hauptamtlichen Lehrerinnen und Lehrer deutlich über 100 % hinaus zu gewährleisten, um alle Unterrichtsausfälle durch hauptamtliche Kräfte abzudecken. Die versprochene Versorgung mit Lehrkräften von 105 % werden wir erst im Jahr 2012 erreichen! 

Der deutsche Sonderweg, für jede „Art Kind“ einen eigenen Schulzweig zu schaffen ist überholt und antiquarisch. Dieser Weg muss überwunden werden.  

Schon durch die Bezeichnung dreigliedriges Schulsystem werden die Eltern getäuscht. Dies entspricht nicht der Realität. In Wirklichkeit handelt es sich hier um ein viergliedriges Schulsystem, denn die Förderschulen sind in diesem Begriff ausgeklammert; sprich einfach nicht mehr vorhanden.  Seit Jahrzehnten profitiert der Rest der Welt vom gemeinsamen durchlässigen Unterricht bis zur 8., 9. oder 10 Klasse. In Deutschland ist dies noch nicht angekommen.  

Zwar steht im Schulgesetz das verbriefte Recht auf individuelle Förderung, aber wie sieht die Wirklichkeit aus? In unserem Schulsystem existieren zwei Arten der Fördermodelle. Zum Einen der herkömmliche Unterricht mit Förderstunden und AGs. Hier sind die wirklichen Förderer die Eltern, die mit ihren Kindern am Nachmittag lernen und arbeiten oder für sie die Nachhilfestunden organisieren und auch bezahlen.  

Trotz hohem Bedarf an gemeinsamem Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderungen wird das viel zu knappe Angebot nicht ausgebaut, obwohl seitens der betroffenen Eltern eine große Nachfrage besteht. Ziel für alle Schülerinnen und Schüler muss ein hohes Maß an Integration sein. Dafür ist gemeinsamer Unterricht unabdingbar. Inklusive Bildung/gemeinsamer Unterricht ist keine Gefälligkeit, sondern ein Menschenrecht. In zwei Jahren wird die Umsetzung des Artikel 24, dem Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Be- hinderungen überprüft. Hier hat der genmeinsame Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern einen großen Stellenwert. Da ist noch viel zu tun. 

Die Lebenswelt unserer Kinder hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Dieser Veränderung muss Rechnung getragen werden. Jede Schule braucht in der heutigen Zeit eine funktionierende Schulsozialarbeit und die Unterstützung durch Schulpsychologen. Die viel zu geringe Zahl der Schulpsychologen wurde trotz einstimmigen Beschlusses des Landtages immer noch nicht erhöht.

Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Die hessische Verfassung garantiert den Eltern die Lernmittelfreiheit. Aber in immer stärkerem Maße werden Eltern zur Kasse gebeten. Lernmaterial, Bücher, Arbeitshefte, Arbeitsmaterial, Kopien usw. müssen von Eltern finanziert werden. Auch das Mittagessen an ganztägig arbeitenden Schulen will bezahlt sein.  

Nachhilfeinstitute haben einen boomenden Markt. Dort verdient man sich dumm und dämlich. Aus diesem Grund ist es unbedingt erforderlich, ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um alle benötigten aktuellen Lernmaterialien an den Schulen bereit zu stellen. Hier gilt es, besonders die finanziellen Haushaltssituationen von allein Erziehenden und von Kindern aus sozial schwachen Familien (u.a. Hartz IV) zu berücksichtigen. Nur so kann die Chancengleichheit hergestellt werden, die alle Kinder brauchen.  

Die Landesregierung will das traditionelle dreigliedrige Schulsystem (Gymnasium – Realschule – Hauptschule) beibehalten, dies wird immer wieder bekräftigt. Die Realität an den hessischen Schulen ist die Abstimmung mit den Füßen: Gymnasien sind überwählt, nur 5 % aller Eltern melden ihr Kind an einer Hauptschule an. Hauptschulzweige werden geschlossen. Allerdings machen nur rund 20 % aller Schülerinnen und Schüler einen Hauptschulabschluss, für eine gezielte Förderung ist es dann oft zu spät. Die Anzahl der Schulabbrecher ist weiterhin zu hoch. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund mit Defiziten in den sprachlichen Fähigkeiten werden durch Förderkurse nicht ausreichend oder gar nicht ausgeglichen. Aus diesem Grund ist eine Fortentwicklung des Schulsystems im Sinne integrierter, durchlässiger Systeme genau so sinnvoll, wie bessere und gezielte Berufsvorbereitung und –förderung.  

Bildung ist die grundsätzliche Voraussetzung für die Teilhabe an und in der Gesellschaft. Die Qualität von Bildung muss neu definiert, systematisch verbessert und ständig evaluiert werden. Wir/unsere Kinder haben ein verbrieftes Recht auf Bildung und zwar kostenlos.  

Wir fordern die hessische Politik auf, endlich ihre Hausaufgaben zu machen und nicht länger rund 700.000 hessischen Schülerinnen und Schülern die Rechnung für diesen Mangel an Fleiß bei der Erledigung Ihrer Hausaufgaben bezahlen zu lassen.