Radikalenerlass – ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens -

endlich Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen einrichten

Ein Antrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen wird am Donnerstag, dem 15. Mai, in die öffentliche Sitzung des Landtages eingebracht und diskutiert werden (Drucksache 17/1491)

Der Landtag wolle beschließen:

Am 28. Januar 1972, beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Vorsitz des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlass. Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten „Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten“, aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden.

Formell richtete sich der Erlass gegen „Links- und Rechtsextremisten“, in der Praxis traf er aber vor allem politisch Aktive des linken Spektrums: Mitglieder kommunistischer, sozialistischer und anderer linker Gruppierungen, bis hin zu Friedensinitiativen. Den Betroffenen wurden fast ausnahmslos legale politische Aktivitäten, wie die Kandidatur bei Wahlen, die Teilnahme an Demonstrationen oder das Mitunterzeichnen politischer Erklärungen vorgeworfen.

Der „Radikalenerlass“ führte bundesweit zum faktischen Berufsverbot für Tausende von Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit, als Briefträgerinnen und Briefträger, als Lokomotivführerinnen und Lokomotivführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten und bewarben.

Systemkritische und missliebige Organisationen und Personen wurden an den Rand der Legalität gedruckt, die Ausübung von Grundrechten wie die Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit wurde behindert, bedroht und bestraft.

Bis weit in die 1980er-Jahre vergiftete die Jagd auf vermeintliche „Radikale“ das politische Klima. Statt Zivilcourage und politisches Engagement zu fördern, wurde Duckmäusertum erzeugt und Einschüchterung praktiziert.

Während das Bundesverfassungsgericht keinen Verfassungsverstoß feststellte, wurde die Praxis der Berufsverbote vom Europäischen Gerichtshof und weiteren internationalen Institutionen als völker- und menschenrechtswidrig verurteilt.

Auch in Niedersachsen waren über 130 Personen unmittelbar durch den sogenannten Radikalenerlass betroffen, und zwar vor allem durch nicht strafbewehrte Mitgliedschaften oder Aktivitäten für Organisationen, denen vorgeworfen wurde, verfassungsfeindliche Ziele zu verfolgen. Betroffen war vor allem der Schuldienst, wo in den 1970er und 80er Jahren Bewerberinnen und Bewerber nicht eingestellt und Lehrkräfte entlassen wurden. Viele Betroffene mussten sich nach zermürbenden und jahrelangen Prozessen beruflich anderweitig orientieren.

Die erste rot-grüne Landesregierung in Niedersachsen hob unmittelbar nach Amtsantritt in ihrer Sitzung am 26. Juni 1990 den „Radikalenerlass“ und alle dazu ergangenen Beschlüsse auf. Eine vollständige politische und gesellschaftliche Rehabilitierung der Opfer steht weiterhin aus.

Ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und DIE LINKE in der vergangenen Legislaturperiode zur Einrichtung einer Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen wurde von CDU und FDP abgelehnt.

Vor diesem Hintergrund stellt der Landtag fest:

- dass der so genannte Radikalenerlass in Niedersachsen mit dem Beschluss der rot-grünen Landesregierung vom 26.06.1990 aufgehoben wurde und seitdem nicht mehr existiert;

- dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen nie wieder Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen;

- dass die Umsetzung des so genannten Radikalenerlasses ein unrühmliches Kapitel in der Geschichte Niedersachsens darstellt und das Geschehene ausdrücklich bedauert wird;

- dass die von niedersächsischen Maßnahmen betroffenen Personen durch Gesinnungsanhörungen, Berufsverbote, langwierige Gerichtsverfahren, Diskriminierungen oder auch Arbeitslosigkeit vielfältiges Leid erleben mussten;

- dass er den Betroffenen Respekt und Anerkennung ausspricht und sich darüber hinaus bei denen bedankt, die sich zum Beispiel in Initiativen gegen Radikalenerlass und Berufsverbote mit großem Engagement für demokratische Prinzipien eingesetzt haben;

Der Niedersächsische Landtag wird eine Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von niedersächsischen Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung einrichten. In dieser Kommission sollen neben Mitgliedern des Landtages auch Betroffene, Vertreterinnen und Vertreter von Gewerkschaften und Initiativen beteiligt werden. Ebenso ist eine wissenschaftliche Begleitung vorzusehen. Ziel ist die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung und die öffentliche Darstellung der Kommissionsergebnisse und die weitere Verwendung im Rahmen der politischen Bildung in Niedersachsen.

Begründung

Insbesondere mithilfe der „Regelanfrage“ wurden bundesweit etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber von den Einstellungsbehörden auf ihre politische „Zuverlässigkeit“ durchleuchtet. Diese Behörden erhielten ihre „Erkenntnisse“ insbesondere vom „Verfassungsschutz“, welcher in dieser Zeit insgesamt 35 000 Dossiers über politisch Andersdenkende fertigte.

In der Folge des „Radikalenerlasses“ kam es in der damaligen Bundesrepublik zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen.

Zahlreiche dieser Verfahren fanden auch in Niedersachsen statt. Bewerberinnen und Bewerber für den öffentlichen Dienst als Landesbeamte oder Angestellte des Landes mussten sich in stundenlangen Befragungen vor der Niedersächsischen Interministeriellen Anhörkommission in Hannover für legale politische Betätigung, ihre Teilnahme bei Demonstrationen, für das Unterzeichnen von politischen Aufrufen oder für die Kandidatur bei Wahlen für Studentenparlamente oder Stadträte oder zum Landtag verantworten.

Erst Ende der 80er-Jahre zogen sozialdemokratisch geführte Landesregierungen die Konsequenz aus dem von Willy Brandt selbst eingeräumten Irrtum und schafften die entsprechenden Erlasse in ihren Ländern ab. Vorangegangen war eine massive Kritik an der Praxis der Berufsverbote vor allem im europäischen Ausland. Auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) beanstandete in einem förmlichen Verfahren gegen die Bundesrepublik die Verfahren.

Im Verfahren der niedersächsischen Beamtin Dorothea Vogt aus Jever, die wegen ihrer Kandidatur für die DKP bei allgemeinen Wahlen aus dem Dienst entfernt wurde, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass diese Maßregelung rechtswidrig war.

Einige der früher abgewiesenen Anwärterinnen und Anwärter und zum Teil sogar aus dem Beamtenverhältnis Entlassene wurden dann doch noch übernommen, teilweise im Angestelltenverhältnis, andere dann als Beamtinnen und Beamte. Viele mussten sich allerdings auch nach zermürbenden und jahrelangen Prozessen beruflich anderweitig orientieren.

Der Niedersächsische Landtag bekräftigt, dass politisch motivierte Berufsverbote, Bespitzelungen und Verdächtigungen keine Instrumente des demokratischen Rechtsstaates sein dürfen.

Bis in die 1980er-Jahre hinein wurde die politische Positionierung durch das Erzeugen von Angst vor Existenzverlust behindert. Neben Bespitzelungen und Gesinnungs-Anhörungen mussten die Betroffenen oftmals jahrelang Gerichtsprozesse und auch Arbeitslosigkeit über sich ergehen lassen.

Schon 1984 verurteilte z. B. der Rat der Landeshauptstadt Hannover die Berufsverbotspraxis und forderte von der Niedersächsischen Landesregierung die sofortige Einstellung der Verfahren und die Rehabilitierung der Betroffenen. Die Politik der Berufsverbote stehe in krassem Widerspruch zum demokratischen Auftrag des Grundgesetzes, hieß es in der Ratsentschließung.

Eine Kommission zur Aufarbeitung der Schicksale der von Berufsverboten betroffenen Personen und der Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung einzurichten, ist gerade deshalb so wichtig, um deutlich zu machen, dass es dabei nicht nur um bedauerliche Einzelfälle ging, wie es der damalige CDU-Innenminister Schünemann in der damaligen Plenardebatte zum ursprünglichen Antrag der Fraktion DIE LINKE darzustellen versuchte. Sondern es herrschte in weiten Teilen der Gesellschaft ein Klima der Angst vor Beobachtung und späteren negativen beruflichen Folgen. Die Fälle, in denen diese Folgen in Form von Berufsverboten eingetreten sind, sollen durch eine Kommission aufgearbeitet werden und dessen Ergebnisse öffentlich präsentiert und im Rahmen der politischen Bildung in Niedersachsen eingesetzt werden.