Gute Arbeit – gute Bildung.

Rede von Manon Tuckfeld auf der Kundgebung des DGB am 01. Mai 2013 in Wiesbaden

Wir haben uns heute unter der Überschrift „Gute Arbeit“ versammelt. Dies möchte ich gern aufgreifen.

Gute Arbeit - das bedeutet für uns Pädagoginnen und Pädagogen mehr als nur optimale Arbeitsbedingungen. Es bedeutet auch die Umsetzung eines Bildungsziels. Um dieses Bildungsziel wird gerungen. Mal offen, mal verdeckt. In den letzten Jahren meinst überformt durch die Begriffe der Betriebswirtschaft. 

Effizient, Output-orientiert, messbar, in Konkurrenz zueinander. Mit der Entscheidung für die Pisa-Tests verschob sich das Bildungsziel von der qualitativ hochwertigen Bildung denkender und selbstständiger Menschen hin zur Förderung der Fähigkeit, maximal anpassungsfähig zu sein. 

So lautet die Leitfrage der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, nicht etwa: was braucht der Mensch, um gebildet zu sein, sondern: welche anpassungsfähigen Eigenschaften werden benötigt, um mit dem technologischen Wandel Schritt zu halten1.

Nun könnte mensch sagen: was will man schon von einer Organisation mit einem solchen Namen anderes erwarten. Weit gefehlt. Alle machen mit und lassen auf den Pisa-Idealtyp testen. Sie akzeptieren damit die Auffassung, dass eine gute Schule, eine Pisa-konforme Schule sein soll. Und damit die Logik, dass alles wirtschaftlich effizient zu sein hat.

Ganz nebenbei, aber dennoch absichtsvoll, werden damit alle übrigen Bereiche -  Kultur, Politik, Geschichte, Kunst und Musik - im Bildungsbetrieb zu verzichtbarem Zierrat, auf den dann auch zunehmend verzichtet wird. 

Das Land, das Pisa wirklich gewinnen will, schafft alles, was zum grundlegenden und kritischen Denken anregt, ab und fördert den flexibel anpassungsfähigen Menschen. (Wie gut, dass die Bundesrepublik Deutschland hier noch nicht so erfolgreich war.)

Zurück zu uns! Denn wir, wir Lehrerinnen und Lehrer, sollen diesen Menschen schaffen.

Was an den Universitäten schon Eingang gefunden hat, wie E-Learning-Programme und formalisierte Multiple-Choice-Tests klopft mit der Durchsetzung von Lernstandards und Lernstandsmessungen bereits an die Türen der Schulen2.

Diese Entwicklung untergräbt nicht nur die Idee, dass Bildung etwas mit Denken, Kritikfähigkeit und Mündigkeit zu tun haben soll, sondern entwertet unsere Arbeit an den Schulen. Es macht uns, die Lehrerinnen und Lehrer, zu Abwicklern und Umsetzern der Standardisierung.

Wenn ich vergessen haben sollte zu erwähnen, dass Pisa privatwirtschaftlich durchgeführt wird, möchte ich dies jetzt tun3. Und ergänzen: auch alles Übrige, das dazu beiträgt, technisch basierte Wissensvermittlungsprogramme an den Mann und die Frau, konkreter an die Hochschulrektorenkonferenz, den Wissenschaftsrat und die Kultusministerkonferenz, zu bringen. Unter der schönen, weil aussagekräftigen Schlagzeile “Bertelsmänner auf Beutezug“ wird auch gleich noch die einflussreichste Lobbyorganisation im Hochschulbereich, das Centrum für Hochschulentwicklung – kurz CHE (was für eine Abkürzung !) – vorgestellt, das den ideologischen und politischen Boden im Bereich des Segments Bildung zur Gewinnung der genannten Herrschaften aus Politik und Wissenschaft vorbereitet.

Der Trend zur Privatisierung der Bildung ist umfassend: 

Mit Nachhilfeangeboten, für die Eltern 1,5 Milliarden Euro ausgeben. Mit Nachhilfeangeboten, die bereits in der Grundschule (ja vor der Grundschule) in Anspruch genommen werden, um die Empfehlung für die weiterführende Schule zu erhalten4.
Dass das privat organisierte Nachhilfesystem die Chancenungerechtigkeit des Bildungssystems erhöht, muss nicht ausgeführt werden, sondern liegt auf der Hand. Dass privat finanzierte Nachhilfe weitgehend überflüssig ist, wenn unsere Schulen anders angelegt und ausgestattet wären, ist ebenso eine Binsenweisheit.
Dazu der Trend zur Privatuniversität. Die dann allerdings nicht wirklich privat ist, sondern sich ungeniert beim Staat bedient, wie am Beispiel der EBS gut gesehen werden kann. Diese wurde beim Aufbau der juristischen Fakultät mit 24,7 Millionen Euro unterstützt5. Warum eigentlich? Weil Bildung nur noch Standortpolitik ist – oder besser name-dropping: Universitätsstadt Wiesbaden. Und dies anstatt die FH vernünftig zu stützen.
Mit Privatschulen, die seit Pisa wie Pilze aus dem Boden schießen. Fast jede Woche eine. In Nordrhein-Westfalen haben sie schon einen – man muss es so sagen – Marktanteil von 16,5%6.
Unter der Überschrift „Wir werden plötzlich wertgeschätzt“ führt Gerhard Obermayr, Betriebswirt, Wirtschaftspädagoge und Chef des größten privaten Bildungskonzerns in Wiesbaden, in der Frankfurter Rundschau im November 20087 auf die Frage hin aus, warum Privatschulen so beliebt sind: „Das war der Pisa-Schock. Die Ergebnisse dieser Studie haben das Vertrauen der Eltern in staatliche Schule nachhaltig erschüttert“.

Aber nicht nur private Unternehmen und deren Lobbyisten schleifen den Bildungsbegriff, um sich ein neues Marktsegment zu erschließen – was ja auch deren Sicht verständlich ist -, sondern der Staat macht fröhlich mit.

Angefangen damit, dass sich der Steuerstaat arm macht, weil er dort, wo viel zu holen ist, nicht viel holt. Weiter damit, dass dieser arme Staat folgerichtig, im Vergleich der OECD-Länder, deutlich unterdurchschnittliche Bildungsausgaben tätigt8 und abgeschlossen mit dem zunehmenden Trend, dass das wenige staatliche Geld in die privat organisierte Bindung gesteckt wird.  

Bereits 50.000 Schülerinnen und Schüler besuchen in Hessen Privatschulen, die Förderung durch den Staat steigt auf 270 Millionen Euro9. In diesen Privatschulen sind die Rechte der Arbeitnehmer oft strukturell eingeschränkt – insbesondere, wenn es kirchliche Einrichtungen sind. Andere leiden unter autokratischen Herrschaftsformen, wie in Wiesbaden bei Obermayr, der ein Imperium aufbaut und Mitarbeiter wie Abhängige ohne jede Rechte behandelt.

Nun mag es für die private Schule den ein oder anderen guten Grund aus Elternsicht geben.

Hierzu sollten aber nicht zählen: kleine Klassen, individuelle Förderung oder, wie es Herr Obermayr in dem bereits zitierten Interview ausdrückt: „Wir lassen Eltern mit den schulischen Problemen ihrer Kinder nicht allein. So sind wir seit langem Ganztagsschule, bieten intensive Förderung, interessantes Freizeitangebot und kleine Klassen.“

Warum bieten dies die staatlichen Schulen nicht? Allgemein ausgedrückt: weil dazu die Mittel nicht bereitgestellt werden.

In unseren Schulen fehlt es häufig schon am Grundlegenden. Wenn Schulen systematisch verrotten, weil kein Geld für Sanierung bereitgestellt wird. Wenn der Putz von den Wänden fällt und die Toiletten so aussehen, dass sich die Kinder zu Recht davor ekeln, sie zu benutzen, dann werden jeden Tag gute Argumente für Eltern geschaffen, dem staatlichen Bildungssystem den Rücken zu kehren, wenn man es sich denn finanziell leisten kann. Das ist der systematische Weg zur Verschärfung des in Deutschland ohnehin sehr dominanten Zusammenhangs von Reichtum und Bildungschancen. Bildung wird nicht als Recht verstanden, sondern als Privileg.

Am Ende des Umbaus könnte die Erkenntnis der Politik stehen, dass Bildung nicht mehr zur Kernkompetenz des Staates gehört.

Am Ende des Weges könnte die Erkenntnis der Politik stehen, dass Bildung die privat organisiert wird, ob mit oder ohne staatliche Hülle, der bessere Weg ist. Public-Private-Partnership10. Was ja bei Autobahnen, Verwaltungsgebäuden und sogar Gefängnissen bereits erprobt ist. 

Am Ende könnte der Staat argumentieren, dass eine Zuzahlung zu privat organisierter Bildung billiger ist als die Bildung selbst zu bezahlen11.

Am Ende der in G8 gequälten Leistungserbringer könnte die Erkenntnis betuchter Eltern stehen, dass für ihr Kind eine privat finanzierte Nische der Ausweg ist.

Am Ende könnte es so sein, wenn es so weitergeht. Aber nur, wenn wir es mitmachen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen: lassen Sie uns täglich dafür eintreten, dass Bildung etwas mit Werten und gesellschaftlichen Zielen zu tun hat. Mit der Ausbildung zum vernünftigen, kritischen Menschen; mit Aufklärung und der Erziehung zur Mündigkeit.

Lassen Sie uns dafür kämpfen, dass für die Schulen ausreichend Zeit und Mittel zur Verfügung gestellt werden; dafür, dass das G8-Unwesen endlich beerdigt wird, dass Bildung nicht der Selektion, sondern der Bereicherung des Geistes, des Fühlens und dem Austritt aus der Unmündigkeit nutzbar wird.

Bildung ist der Schlüssel zur Welt – und wer die Bildung in der Hand hat, kann die Welt an entscheidender Stelle mitgestalten.  

Ein kurzer Ausflug in die anverwandte Welt der Wissenschaft kann hier den Beweis führen. Staatliche Hochschulen sind immer mehr auf Drittmittel angewiesen. So ist beispielsweise der Drittmittelanteil von 33 Prozent (1995) auf 45% (2010) gestiegen12. Macht nichts? Macht wohl was. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing. Die Industrie kann ihre, genauer die von ihr gewünschten Ergebnisse, nun über so wohlklingende Namen wie die der staatliche Hochschule RWTH in Aachen, der Politik an die Hand geben. Dass Politik sich dann noch mehr an interessengeleiteten Ergebnissen orientiert, ist, des staatlichen Hochschulnamens wegen, nicht offen sichtbar und damit umso wirksamer.  

Wenn also ein Gegengewicht zur Wirtschaft und ihren Verwertungsinteressen gesellschaftlich gewünscht ist, muss es heißen: Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung darf nicht privatisiert werden. Wissenschaft muss dem Menschen dienen.

Eine Abschlussbemerkung möchte ich noch machen. Es ist nicht alles gut, nur weil es nicht privatwirtschaftlich durchdrungen ist. Auch staatliche Schulen gehören erneuert und neu durchdacht. Wichtig ist aber, dass sie aus einer anderen als der ökonomischen Perspektive neu durchdacht werden. Für gute Arbeit brauchen wir gute Bildung.

  1. Jochen Krautz, Bildung als Anpassung? Das Kompetenz-Konzept im Kontext einer ökonomisierten Bildung, Fromm Forum 13/2009, S. 87 – 100 (insb. S. 99)
  2. Bertelsmänner auf Beutezug, Interview mit Wolfgang Lieb, 27.02.2012; http://www.studis-online.de/HoPo/art-1371-bertelsmann-bildung.php (abgerufen am 04.05.2013)
  3. Ebd.
  4. Nachhilfe kostet bis zu 1,5 Milliarden Euro pro Jahr. Studie: 1,1 Millionen Schüler nehmen regelmäßig Nachhilfe – Privat finanzierter Förderunterricht bereits in der Grundschule verbreitet, www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/bst/hs.xsl/nachrichten_99657.htm
  5. Frank van Bebber, Frisches Geld: Klammes Hessen pumpt Millionen in Privatuni, www.spiegel.de/unispiegel/studium/frisches-geld-klammes-hessen-pumpt-millionen-in-privatuni-a-704879.html
  6. Katja Barthels, Beliebt wie nie, Zeit Online 14.02.2008, www.zeit.de/2008/08/C-Privatschulen-Zahlen-und-Infos
  7. Wir werden plötzlich wertgeschätzt, Interview mit Gerhard Obermayr, FR vom 11.09.2008, www.fr-online.de/wiesbaden/gerhard-obermayr--wir-werden-ploetzlich-wertgeschaetzt-,1472860,3252756.html
  8. www.zeit.de/gesellschaft/2009-09/oecd-studie-bildungsausgaben
  9. www.fr-online.de/rhein-main/privatschulen-hessen-mehr-geld-fuer-privatschulen,1472796,22355530.html
  10. Vgl. insgesamt: Ingrid Lohmann, Bildung am Ende der Moderne. Beiträge zur Kritik der Privatisierung des Bildungswesens, Hamburg 2010. Als eBook abrufbar unter: www.epb.uni-hamburg.de/erzwiss/lohmann/Privatisierungskritik/E-Book.pdf
  11. In diese Richtung etwa: Ludger Wößmann, Wettbewerb durch öffentliche Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft als wichtiger Ansatzpunkt zur Verbesserung des Schulsystems, ifo Schnelldienst 1/2011, www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoContent/N/event/mucsem/mucsem-infopages/mucsem20101206/ifosd_2011_1_1_3.pdf
  12. Hans-Carl Schultze, Ulrich Stoll und Gregor Witt, Gekaufte Wissenschaft? Firmen finanzieren Hochschulforschung. Manuskript zur Sendung Frontal21, ZDF, 09.04.2013