GEW Wiesbaden 4. Bildungsgespräch:

Über die Ursachen der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

Die GEW Wiesbaden hatte zu dieser Veranstaltung am 10.05. 2012 im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Wiesbadener Bildungsgesprächen wieder in die Kerschensteinerschule eingeladen; mit Erfolg, denn selbst an diesem schönen Frühlingsabend waren etwa 60 Zuhörer gekommen.

Der Frage nach den Ursachen von ADHS geht unser Referent, der Erziehungswissenschaftler Ulf Sauerbrey von der Universität Jena, nach. Sauerbrey hat aktuell eine Meta-Studie vorgelegt, die den Ursachen von ADHS auf den Grund geht. Sein Befund: Umweltgifte sind neben anderen Auslösern mit für die Entstehung von ADHS verantwortlich. Er begann seinen Vortrag mit einer allgemeinen Schilderung der Symptome: Auf der Verhaltensebene bietet sich das Bild des auffälligen und störenden Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen in ihrem sozialen Kontext. Früher war dann gern die Rede von der Traumsuse (ADS) und dem Zappelphilipp (ADHS).

Inzwischen gibt es ein ausführlich untersuchtes Störungsbild, allerdings mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Dies hat bereits in der Vergangenheit zu Kontroversen geführt und ein Ende ist vorerst noch nicht abzusehen.

Die Ritalin-Debatte

Häufig wird nach der Diagnose ADHS dem Kind Ritalin (Methylphenidat) verordnet. So stieg der Ritalin-Einsatz von 34 Kilogramm im Jahre 1993 auf 1760 Kilogramm im Jahr 2010 (bezogen auf die BRD). Das Medikament Ritalin wurde von einem amerikanischen Arzt im Jahr 1954 im Selbstversuch entwickelt. In Paranthese: Die Ehefrau des Arztes hieß Rita und das neue Medikament wurde wie folgt beworben: Ritalin hilft Ihnen aus der Misere. Gemeint war damit der Zustand des Hausfrauenphlegmas und das Medikament sollte bewirken, dass sich z.B. der Abwaschberg zum Missfallen des Ehegatten nicht noch mehr erhöhte. Allgemein ausgedrückt, es ging um die Anpassung der Verhaltensweisen einer Person an die Erwartungsshaltung einer anderen. Um Anpassung an die Erwartungsshaltung der Umgebung (Schule, Elternhaus, Kindergarten etc.) des Kindes und des Jugendlichen geht es noch immer, fast 60 Jahre nach der Entwicklung dieser Substanz. 

Keine Frage, inzwischen gibt es auch andere Methoden. Dennoch, trotz Vorhandensein von Psychoedukation, Neurofeedback und multimodalen Ansätzen wird Ritalin immer noch zu häufig verschrieben. Das schließt nicht aus, dass, wie der Referent anmerkte, die Gabe von Ritalin in Einzelfällen durchaus sinnvoll sein könne, vorausgesetzt, sie sei von flankierenden Maßnahmen begleitet und zeitlich begrenzt.

  • Soziokulturelle Ursachen
  • Beschleunigung der Zeitstruktur in der Postmoderne
  • eine Art Schnellfeuerkultur mit anhaltender Reizüberflutung
  • reduzierte Familienstrukturen( z.B. Überforderung bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern)
  • Erziehungsverhalten der Eltern: verfehlte Erziehungsmodelle (zu liberal, inkonsequent, grenzenlos) Hier stellt sich allerdings die Frage nach der Reihenfolge: Was war früher da? ADHS oder die Erziehungsmuster?
  • ADHS als gesellschaftlich konstruiertes Phänomen ohne wissenschaftliche Grundlage. Dann würden insbesondere die Pharmakonzerne an einem Konstrukt vorzüglich verdienen.

Inzwischen gibt es allerdings solide diagnostische Kriterienkataloge, um ADHS zuverlässig zu diagnostizieren. Nach dem diagnostischen Kriterienkatalog DSM-IV (BRD; Diagnostic und Statisical Manual of Mental Disorders, 2003) ist von einer Prävalenz des ADHS von drei bis fünf Prozent auszugehen, also messbar (vergl. Ulf Sauerbrey, ADHS durch Umweltgifte, Jena 2010, S.18 ). Außerdem legt der Kriterienkatalog auch Rahmenbedingungen der Diagnose fest, so z. B., dass die Störung an zwei verschiedenen Orten (z.B. Schule, Elternhaus) über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten aufgetreten ist (ebenfalls DSM-IV, BRD).

Bei strenger Anwendung der Kriterien und der Diagnostizierung durch Fachleute (Pädagogen, Ärzte) ist es allerdings eher selten, dass ADHS mit dem folgenden Syndrom tatsächlich festgestellt wird: Störung der Aufmerksamkeit (Unaufmerksamkeit und Konzentrationsschwäche; Zappeligkeit; Störung des Sozialverhaltens; Störung der Inhibitionskontrolle

Auslöser

  1. Vererbung: Zwillings-und Adoptionsstudien lassen auf eine gewisse genetische Disposition, die ADHS begünstigt, schließen. Allerdings vermutet man nicht ein verursachendes Gen, sondern das Zusammenspiel verschiedener Gene
  2. individuelle Hirnforschung und Molekularbiologie: Verkleinerung des präfrontalen Cortex und des Corpus Callosum (ähnliche Befunde wie bei der Legasthenie)
  3. unkontrollierter Gebrauch der Bildschirmmedien: Laut Studienstand

2007 gibt es noch keine gesicherten Erkenntnisse über den Zusammenhang von ADHS und überdurchschnittlichem Bildschirmmedienkonsum. Ausgenommen ist hierbei die Altersgruppe der ganz Kleinen: Bei Kindern zwischen 0 bis 3 Jahren begünstigt deren häufiges Platzieren vor dem Bildschirm nachweislich ADHS.

ADHS und bisher weitgehend unbeachtete Umweltgifte. Sauerbrey geht hierbei von folgenden Thesen aus:

  1. ADHS könnte trotz verschiedener ursächlicher Faktoren in seiner wesentlichen Genese eine durch Neurotoxine verursachte Umwelterkrankung sein.
  2. Dies erscheint möglich da der Kinderalltag in westlichen Industrienationen von neurotoxischen Schadstoffen (Umweltgiften) geprägt ist und Kinder heute bereits mit zum Teil hohen Konzentrationen solcher Stoffe in ihren Organen geboren werden.
  3. Eine überwiegende Unkenntnis über Schädigungsmechanismen, Wirkungen und Arten von Umweltgiften sowie deren Vorkommen im kindlichen Alltag ist ein Grund für die Missachtung dieser Stressoren. 
  4. Synergetische Effekte der verschiedenen Risikofaktoren der ADHS erschweren die ursächliche Betrachtung (vergl. Ulf Sauerbrey, a.a.O., S.15).

Sauerbrey gibt einen eindrucksvollen Überblick über die bislang zu wenig oder gar nicht beachteten Umweltgifte, die zumindest als mitverantwortliche Auslöser von ADHS in Frage kommen. Vorweg wurde erläutert, warum Kinder mehr als Erwachsene durch Umweltgifte gefährdet sind:

  • vorgeburtliche Belastung durch plazentale Übertragung der Giftstoffe
  • höhere Atemfrequenz
  • geringere Ausscheidung bei höherer Nahrungsaufnahme (jeweils in Relation zum Körpergewicht) 
  • vermehrter Bodenkontakt und geringere Entfernung zum Boden.
  •  Überblick über die Umweltgifte
  • Blei: 

Sauerbrey verweist auf mehrere Studien (z. B. Mc Michael et al., vergl. a.a.O. S.33) Bereits Ende der 1980er Jahre waren auch die Kernsymptome der ADHS verursacht durch Blei bei Kindern aufgefallen. Die gemessene Konzentrationen lagen dabei über der durchschnittlichen Belastung der Allgemeinbevölkerung.

Pestizide: 

Diese Schadstoffe finden sich besonders häufig in fettreichen tierischen Lebensmitteln. Kinder sind aufgrund ihres geringeren Körpergewichts und der gleichzeitig relativ erhöhten Nahrungsmengenaufnahme stärker gefährdet als Erwachsene.

Quecksilber: 

Sauerbrey erläuterte,dass Methylquecksilber bereits in niedrigen Konzentrationen Schäden in der Aufmerksamkeit, der Feinmotorik und im Wortgedächtnis verursacht. Dies beweisen mehrere Studien (vergl. Sauerbrey, a.a.O. S.55) Nun besteht das in der Zahnmedizin häufig verwendete Zahnamalgam etwa zu 50 Prozent aus flüssigem Quecksilber und zu 50 Prozent aus Metallspänen. Da dies insgesamt durch die Plazenta aufgenommen wird, geben schwangere Frauen die Substanz an den Fötus ab.

Professor Wong von der Universität Peking schloss einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Amalgamfüllungen im Munde der Mutter und Fällen von plötzlichem Kindstod nicht aus. Auch diese Zusammenhänge bedürfen weiterer Studien zur eindeutigeren Klärung des Phänomens. Beachtenswert ist dennoch, dass zumindest in der BRD Kassenpatienten häufiger Amalgamfüllungen erhielten als Privatpatienten - aus Kostengründen!

Farb-und Konservierungsstoffe:

Diese sind vielfach in Süßigkeiten, z.B. in Smarties usw. enthalten. Amerikanische Studie legen auch hier einen Zusammenhang zwischen dem Entstehen von ADHS und der Einnahme dieser Stoffe durch Kinder nahe (vergl. Sauerbrey, a.a.O., S.62).

Polychorierte Biphenyle (PCBs):

PCBs werden häufig Imprägniermitteln zugesetzt, als Weichmacher in Kunststoffen, Lacken, Farbanstrichen und Klebstoffen verwendet. Zwischen 1958 und 1978 wurden in der BRD PCBs bestimmten Fugenmassen beigemischt. Diese fanden besondere Anwendung zwischen Gebäudeteilen und in Fertigbauelementen. Die Innenraumbelastung stellt die größte Gefahr der PCBs für die Allgemeinbevölkerung dar (vergl. Sauerbrey, a.a.O., S.38/39).

Hier verwies Kollege Jürgen Jäger (GEW Wiesbaden) darauf, dass von den 78 Wiesbadener Schulen 66 durch PCBs belastet waren bzw. durch unzulängliche Sanierung immer noch sind. (Dabei ist anzumerken, dass die Grundschulen, in die der ehemalige Wiesbadener Oberbürgermeister Exner und der ehemalige Ministerpräsident Eichel ihre Sprösslinge schickten, ganz oben auf der Sanierungsliste standen.) Die Studien betreffs PCBs sprechen eine eindeutige Sprache: PCBs beeinträchtigen die Konzentrationsfähigkeit, führen zu Aufmerksamkeitsstörungen sowie zur Beeinträchtigung der Feinmotorik. (vergl. Sauerbrey, a.a. O., S.41 f.)

In der nachfolgenden Diskussion wurde festgestellt, dass es noch keine verlässlichen Studien darüber gibt, inwieweit Lebensstile und sozialer Status mit der Entstehung einer ADHS korrelieren. Dass der abrupte Entzug von Ritalin gefährlich sei, betonte der Referent nachdrücklich. Es lässt sich ein erhöhtes Risiko von Suiziden, Unfällen, Entstehen krimineller Biografien in diesem Zusammenhang belegen.

Es gibt private Schulen für Kinder mit diagnostizierter ADHS. Der Bundesverband ADHS berät Eltern über die Möglichkeiten für eine geeignete Beschulung ihrer Kinder und gibt Rechtsauskunft. Eine Frage nach dem europäischen Ländervergleich ergab, dass zum Beispiel in Italien erheblich seltener ADHS festgestellt wird als in der BRD. Die Ratschläge von Rousseau und Fröbel mögen manchem in den Sinn kommen: Sie mahnen, die Kinder gesund und natürlich aufwachsen zu lassen, auf ihre Ernährung und eine geeignete Umgebung zu achten. Manche unserer modernen Einrichtungen würden in den Augen der großen Alten in puncto Kindergemäßheit wohl eher durchfallen. Wahrscheinlich sollten wir nicht ständig probieren die Kinder schultauglich zu machen, sondern das Ganze umdrehen und daran gehen, die Schulen ein bisschen kindertauglicher zu machen. Vielleicht würde die ADHS-Bilanz dann auch rückläufige Tendenzen aufweisen. 

 

Empfehlung/Literaturhinweis: Ulf Sauerbrey: ADHS durch Umweltgifte/Schadstoffe in der Kinderumwelt, Jena 2010