Fünftes Wiesbadener Bildungsgespräch zu G8/G9

Wer die Wahl hat, hat die Qual? Gymnasien: Weiter mit G 8 oder Rückkehr zu G 9?

„G 8 ist ein Erfolgsmodell! G 8 erhöht die Qualität von Schule und Unterricht! G 8 führt alle gut und schnell zum Abitur, denn früher waren unsere Schüler zu alt, als sie Abitur gemacht haben. Alle lernen besser mit G 8. G 8 zeigt, wie man das Bildungsland Hessen erfolgreich weiterentwickelt. Lehrer, Eltern, Schüler, die Wirtschaft, alle begrüßen einheitlich G8, G 8 gibt es überall, bundesweit. Es gibt keine Alternative zu G 8, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen. In Treue fest: Wir stehen zu G 8. Wir sagen heute nichts anderes, als was wir gestern und immer gesagt haben.“

So und ähnlich, stets und ständig hörten wir es von der Landesregierung und den sie tragenden Parteien, - bis etwa zum Ende des letzten Schuljahres. Da kündigte Ministerpräsident Bouffier (CDU) an, dass es anders kommen solle, und er instruierte auch gleich seine neue Kultusministerin (FDP). Frisch im Amt, erfuhr Frau Beer, wer im Lande Hessen die Richtlinien der Bildungspolitik bestimmt. Nun war auf einmal von einer „Wahlfreiheit“ die Rede, die Gymnasien sollten die Freiheit haben, auch wieder zu G 9 zurückzukehren. Ein Schelm, wer dabei an die Landtagswahl im Herbst  2013 denkt.

Die Kreisverbände Wiesbaden, Rheingau und Untertaunus der GEW konnten daher zu keinem besseren Zeitpunkt zu ihrem „Fünften Bildungsgespräch“ einladen. Erstmals konnte man an diesem Abend Näheres über die Regierungspläne erfahren.  „Wer die Wahl hat, hat die Qual, G 8 oder G 9?“ war das Thema, das am 11. Oktober zahlreiche Interessierte in die Wiesbadener Gutenbergschule zog. Michael Zeitz (GEW-Wiesbaden) konnte als Gesprächsleiter neben Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Gymnasien auch Vertreterinnen und Vertreter der Elternschaft, von Personalräten und  zudem den Schulleiter der Gutenbergschule, Herrn Schlotter, begrüßen. Ebenso waren aus der Stadtverordnetenversammlung Wiesbaden Fraktionsmitglieder von Bündnis 90/Die Grünen und der gemeinsamen Fraktion Die Linke/Piratenpartei  erschienen. 

Stefan Edelmann, Vorsitzender der Landesfachgruppe Gymnasien der GEW, stellte zunächst die drei Optionen vor, die es für die hessischen Gymnasien geben soll. Mit Beginn des nächsten Schuljahres, sozusagen sofort, sieht die neue Freiheit so aus. 

Erstens. Die Gymnasien können G 8 beibehalten, indem sie es (zum wievielten Male eigentlich?) optimieren. Die Optimierung soll namentlich durch Verstärkung des kompetenzorientierten Unterrichts erfolgen, der – innerhalb der Potemkinschen Dörfer des Ministeriums – ohnehin „an den hessischen Schulen verstärkt erfolgt“ (sinngemäß zitiert nach einem beliebigen Erlass aus dem vergangenen Schuljahr). Dies könnte man die betriebswirtschaftlich-technokratische Wahl nennen.

Zweitens. Die Gymnasien „wählen“ frei „an“, dass sie parallel G 8- und G 9-Züge anbieten wollen. In den Jahrgangstufen 5 und 6 besuchen noch alle Kinder gemeinsamen Unterricht, eine Form von Inklusion, die man anderen Ortes vermisst. Zum Ende der Klasse 6 entscheidet die Schule (nicht etwa das Elternhaus!), wer nun in G 8 und wer in G 9 weitermachen darf. Es fragt sich, wie die Regierung dies mit dem Elternwillen vereinbaren kann, welcher ihr sonst so wichtig ist. Auch erhebt sich die Frage, ob es an diesen Gymnasien zwei Sorten des Abiturs geben soll – ein Abitur G 8, heißt hohe Qualität durch frühe Entwicklung von Überlebenskompetenz, sowie ein eher proletiges Abitur G 9? Diese Wahlmöglichkeit darf man getrost als die absurde bezeichnen.

Drittens. Eine Rückkehr zu G 9 ist an Bedingungen gebunden, die an die Besteigung des Kalvarienberges erinnern. (Wir werden in Hessen ja auch durchaus christlich-dominiert regiert.) GEW-Landesvorstandsmitglied Edelmann listete die Stationen auf:

Die Gesamtkonferenz der rückkehrwilligen Schule muss ein entsprechendes Konzept erarbeiten.
Die Gesamtkonferenz muss ein entsprechendes Meinungsbild herbeiführen.
Die Schulkonferenz muss der Rückkehr zu G 9 mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen.
Dies setzt natürlich voraus, dass der Schulelternbeirat und die Schülervertretung ebenfalls zugestimmt haben.
Mit dem Schulträger ist ein Einvernehmen herzustellen, da er über die Räume zu entscheiden hat. Eine Forderung nach weiteren Räumen darf nicht erhoben werden.
Das Staatliche Schulamt muss den Antrag der Schule genehmigen.
Die Neuorientierung der Schule ist in den Schulentwicklungsplan der Gemeinde oder des Kreises einzuarbeiten.
Das Hessische Kultusministerium muss diesem entsprechend geänderten Schulentwicklungsplan zustimmen. 
Diese furchterregende Liste brachte die Teilnehmer der Diskussion aber keineswegs dazu, nun gleich den Kopf hängen zu lassen. Abgesehen davon, dass immer wieder auf das Scheitern von G 8, auf die Möglichkeit des Endes für eine völlig verfehlte Bildungspolitik hingewiesen wurde, abgesehen davon, dass in zahlreichen Beiträgen eine substantielle Kritik an G 8 erfolgte, waren die Anwesenden nicht bereit, sich im Gestrüpp dieser Bedingungen zu verlieren, - wie man es vielleicht erwarten könnte, wie es vielleicht auch ein Motiv für diese Liste sein mag. Mehrfach wiesen Rednerinnen und Redner darauf hin, dass dieser ganze Hürdenlauf kaum dazu führen könne, einer Schule, die ernsthaft G 9 wieder etablieren wolle, diesen Weg zu verweigern. Das könne sich das Ministerium im Zeichen der allseits propagierten „Wahlfreiheit“ doch gar nicht erlauben. 

Die größte Schwierigkeit sahen wohl die meisten Gäste der GEW-Kreisverbände in der geforderten Zweidrittelmehrheit in der Schulkonferenz. Richtig wurde eingewendet, dass ein solches Quorum sonst nirgends im hessischen Schulrecht vorzufinden ist, so dass es einfacher sei, Bundeskanzler(in) zu werden, als eine Schule wieder in Richtung G 9 zu bringen. 

Zu Recht wurde moniert, dass auch für ein Nebeneinander von G 8 und G 9-Gymnasien in Hessen der Effekt gelten könne, dass hinfort von Schulen mit der etwas stärkeren und mit der etwas schwächeren Schülerschaft gesprochen werden könne, dass überhaupt die Gymnasien durch eine solche Differenzierung gegeneinander in Konkurrenz gerieten. Zu dieser „klassischen“ Argumentation der betriebswirtschaftlich orientierten Bildungspolitik wurde von verschiedener Seite kritisch angemerkt, dass die Rückkehr zu G 9 ja ein bundesweiter Trend sei, selbst der Freistaat Bayern wackele, in Schleswig-Holstein etwa sei ein Nebeneinander von G 8 und G 9-Schulen gang und gäbe – mit dem Effekt, dass sich immer mehr Gymnasien für G 9 entschieden. Vor allem aber, so ein weiterer Diskussionsredner, sei doch die „Stärke“ einer Schülerschaft mit Hilfe dieser Konkurrenzdenkens überhaupt nicht zu erfassen. „Starke Schüler“, das seien diejenigen, denen man Entwicklungschancen, sprich Entwicklungszeit eingeräumt habe, die die Zeit für eine geistige Entwicklung anstelle eines Testmarathons gehabt hätten. Überdies, so eine andere Rednerin, sei es keinesfalls so, dass man vor immer jüngeren Schülerinnen und Schülern jeden beliebigen Inhalt präsentieren könne. Bestimmte komplexe oder einfach schwierige Unterrichtsinhalte brauchten eben auch etwas, was der heutigen  Schule generell fehle: Zeit.

Überhaupt die Zeit: Woher nähmen die Kollegien neben den  zahlreichen anderen Segnungen, die ihnen die betriebswirtschaftlich genormte Schule beschert habe, – man denke etwa an Vergleichsarbeiten, Lernstandserhebungen, Schulinspektionen, kompetenzorientierte Schulcurricula, Landesabitur – woher nähmen die Kollegien die Zeit, auch noch mal eben so nebenbei ein Konzept für ein G 9-Gymnsium zu erstellen? Auf diese Frage konnte Stefan Edelmann relativ leicht und für viele Anwesende einleuchtend Auskunft geben. Es sei schließlich so, dass hier das Rad nicht neu erfunden werden müsse. G 9-Stundentafeln und Lehrpläne seien ja noch vorhanden und für das geforderte „G 9-Konzept“ könne man auf Papiere der überreichlich vorhandenen Planungs- und Steuerungsgruppen zurückgreifen. Auch seien die Schulen gut beraten, sich zu vernetzen, ein G 9-Konzept könne wohl kaum an jeder Schule komplett anders sein.

Noch aus einem anderen Grund ist der Faktor „Zeit“ wesentlich. Passend zum Bildungsgespräch der GEW-Kreisverbände, hatte das Ministerium am selben Tage eine Schulleiterdienstversammlung für den Aufsichtsbezirk Wiesbaden und Rheingau-Taunus stattfinden lassen, in der Ministerialrat Janko in Vertretung der Ministerin die Schulleiterinnen und Schulleiter ins richtige Bild zu setzen hatte. Dort hielt man es für kaum bzw. gar nicht realisierbar, schon zum 1. August 2013 mit G 9 an einer Schule beginnen zu können. Michael Zeitz, der als Vorsitzender des Gesamtpersonalrats im Aufsichtsbereich an der Schulleiterdienstversammlung teilgenommen  hatte, konnte im Einklang mit Herrn Schlotter von der Gutenbergschule berichten, dass die Schulleiter einstimmig vereinbart hätten, zum 1. 8. 2013 keine Umstellung auf  G 9 zu initiieren. 

Das mögen viele Gäste des Bildungsgespräches als gar nicht  so gravierend empfunden haben. Es sei ja sinnvoll, sich Zeit zu nehmen, konnte man hören, Zeit etwa bis zum 1. August 2014, zumal dann, wenn man den Anhängern der betriebswirtschaftlichen Schule ihr outputorientiertes Kurzfristdenken vorhalte. Auch sei es putschistisch, so ein GEW-Kreisvorstandsmitglied aus Wiesbaden, eine solche Entscheidung übers Knie zu brechen, ohne einen ausführlichen schulinternen Diskussionsprozess. Auch seien schon allein aus rechtlichen Gründen manche der aufgestellten Hürden bis zum Beginn des nächsten Schuljahres nicht mehr zu überwinden. 

Das alles mag so in Ordnung gehen. Doch wir müssen in jedem Falle noch an das kleine gallische Dorf erinnern, das nimmer müde wurde, sich zu wehren und seine Pläne zu verfolgen. Wohl kaum jemand an diesem Abend konnte eindringlicher formulieren und den Befürwortern von G 9 an den Schulen mehr Mut zusprechen als der Personalratsvorsitzende des Gymnasiums Eltville. Dort ist man bereit, zu G 9 zurückzukehren, so schnell es geht. Man ist sich in dieser Frage mit wohl nur einer Ausnahme einig. Man verfügt über ein luzides Konzept – das stellte der Personalratsvertreter selbst deutlich genug unter Beweis. Man sieht auch keine unüberwindlichen rechtlichen Hürden. Man will mit G 9 einfach anfangen. Man will das einfach haben. 

Dieses engagierte Plädoyer haben die vielen G 9-Befürworterinnen und Befürworter beim GEW- Bildungsgespräch sicherlich mit großem Interesse gehört. Von Eltville lernen, heißt siegen lernen?

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die hessische GEW fordert klipp und klar die Rückkehr zu G 9 für unser Land. Die Kreisverbände Wiesbaden und Rheingau-Untertaunus wollen daher alle Schulen, die sich auf diesen Weg machen wollen, in ihren Anstrengungen unterstützen. Gymnasien im Rheingau-Taunus-Kreis und in Wiesbaden, die an der Rückkehr zu G 9 interessiert sind oder die sich hierzu entschließen wollen, bitten wir, mit dem Vorsitzenden des Gesamtpersonalrats der Lehrerinnen und Lehrer, Michael Zeitz, in Verbindung zu treten. Kontakt: Michael.Zeitz@wi.ssa.hessen.de         

Außerdem bitten wir alle diese Schulen, sich rechtzeitig mit denjenigen Schulen abzustimmen, die Schülerinnen und Schüler an das entsprechende Gymnasium abgeben.