Ein zwanzig Jahre alter Brief

Noch immer aktuell

Dieser Brief feiert seinen zwanzigsten Geburtstag, ohne dass sich bis heute etwas an der PCB-Belastung in den Bildungseinrichtungen geändert hat.

Die Grenzwerte wurden zwischenzeitlich um das 50fache gesenkt. Wenn ehemals ein Raum mit 3000 Nanogramm PCB/ccm belastet war, wurde der Raum geschlossen. Heute wird nach der Empfehlung des Umweltbundesamtes der Raum bei 60 Nanogramm PCB/ccm geschlossen.

Das heißt: Schulen, welche nur bis ca. 300 Nanogramm PCB/ccm saniert wurden, müssen nachsaniert werden! 
Schulpersonalräte haben im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht nicht nur gegenüber Ihren Kollegien sondern auch gegenüber den ihnen anvertrauten Kindern eine Mitverantwortung. Sie sollten die Innenraumluft-Belastungen durch Gift-und Schadstoffe regelmäßig untersuchen lassen und auf Abhilfe drängen.

 

"Sehr geehrter Herr Minister Seehofer,

für das neue Jahr wünsche ich Ihnen, wie in den zurückliegenden Jahren, viel Erfolg bei der Umsetzung “Gesunde Kindereinrichtungen und Schulen".

Das Jahr 1996 hat für viele Kinder und Eltern leider wieder einmal mehr die Gewißheit gebracht, daß das Problem der Innenraumbelastung von Kindereinrichtungen und Schulen durch Polychlorierte Biphenyle (PCB) und andere Stoffgruppen der Chlorchemie bzw. Asbest, künstliche Mineralfasern und Elektrosmog sich nicht am Beispiel der Sanierungsmaßnahmen für das Frankfurter Justizgebäude "C" orientierte. Zur Erinnerung: Als die dort beschäftigten Richter, Juristen, Beamten und Angestellten feststellen mußten, daß ihr Arbeitsplatz hochgradig durch das Innenraumgift PCB belastet war, zogen sie aus den Räumen aus und betraten sie erst wieder, nachdem PCB erfolgreich aus den Räumen entfernt war. Die hierbei sofort bewilligten Sanierungskosten zeigen auch auf, daß "Geld" keinen PCB-Sanierungshinderungsgrund darstellen muß.

Leider mußten wir jedoch auch 1996 wieder feststellen, daß für Kindereinrichtungen und Schulen immer wieder das Argument "Geld" als Sanierungsverhinderungsgrund angeführt wird, und im Gegenzug die sogenannten "Grenzwerte" erhöht werden. So haben einige Bundesländer, z.B. Baden-Württemberg, die Grenzwerte für Schulen auf 10000 ngPCB/m3 für 8 Stunden festgelegt. Bei einer inhalativen Aufnahme eines sogenannten BGA-Normkindes von 35 kg Körpergewicht und einem Atemvolumen von 10 cbm pro Tag beträgt die Überschreitung des inhalativen Bundesgesundheitsamtes - acceptable daily intake (ADI) - Wertes von +757%, selbst der Aufenthalt von nur 2 Std. beträgt noch +114%. Das Krebsrisiko (lebenslang) bei 0,7ug PCB/cbm beträgt 8,4 auf 10000 Exponierte. Diese Modellannahme des ADI beruht ausschließlich auf Labor-Tierversuchen. Es gibt weltweit keinen reproduzierbaren Tierversuch zur inhalativen Aufnahme!

Daß dies aber weitere gesundheitliche Belastungen für die Menschen zur Folge hat, deren Auswirkungen durch die synthetischen Hormone erst unsere Enkelkinder voll zu spüren bekommen werden, zeigen die Untersuchungen von amerikanischen Wissenschaftlern (Bedrohte Zukunft, Theo Colborn & andere).

Auch zeigt die im Geschäftsbericht der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Hessen veröffentlichte Sterbestatistik von 1993-1996, daß 43% aller verstorbenen GEW-Kolleginnen und -Kollegen das Pensionsalter nicht erreicht haben.

Da sich die PCB-Problematik nicht alleine auf Kindereinrichtungen und Schulen bezieht, sondern auch auf Wohnquartiere und Arbeitsplätze der metallverarbeitenden Industrie durch das Altlastenproblem der PCB-haltigen Kühlschmiermittel, der Verseuchung von bundesweit über 200 Telekomgebäuden mit PCB, von Hochschulen, Krankenhäusern, Altenheimen, Polizeistationen, Bürogebäuden, Rathäusern, Kasernen, Justizvollzugsanstalten und kirchlichen Einrichtungen ist ein umfassendes, einheitliches, langfristig wirkendes Sanierungskonzept für Gift- und Schadstoffe in Innenräumen für Deutschland mit finanzieller Unterstützung durch die Bundesregierung dringend geboten.

Ein weiteres Übel sind die derzeitigen Sanierungsmaßnahmen der Kommunen, hier am Beispiel einiger ausgewählter Städte aufgezeigt:

Frankfurt: Asbest-Begehung in den 80er Jahren mit den Ergebnissen, daß bei sehr vielen Schulen nur 79 Punkte bei der Asbest-Bewertung festgestellt wurden. Bei Nachmessungen 1996 auf Drängen der GEW mußten 15 Schulen geschlossen werden. Eine dringende Asbestsanierung für Frankfurter Schulen steht an. 1995 wurde durch den Magistrat der Stadt Frankfurt eine PC8-Untersuchung von 20 Schulen von einem Institut durchgeführt. 60 weitere Schulen sollen noch folgen. Am 15.12.1995 mußten Kollegen in einer Schule feststellen, daß bei offenem Fenster PCB-Messungen durchgeführt wurden. Die darauffolgenden Messungen wurden meist sodann in der Ferienzeit durchgeführt mit dem Erfolg, daß Fehlerhaftigkeiten während einer der Meßreihen sich vor diesem Hintergrund nicht ausschließen lassen. (Gutachten der Ingenieur-Sozietät, Dreieich, im Auftrag des Umwelt- und Schadstoffbeauftragten der GEW-Hessen zu beigestellten Untersuchungsberichten der ARGUK-Umweltlabor GMBH (PCB-Messungen an Frankfurter Schulen, Arzt und Umwelt 1/97).

Mainz: In der Landeshauptstadt Mainz wurden in den 90er Jahren PCB-Messungen durchgeführt mit dem Ergebnis, daß sehr viele Schulen PCB-belastet sind. Aber erst 1994 wurde öffentlich hierüber berichtet, mit der Folge, daß ein PCB-Unterausschuß im Stadtparlament gebildet wurde. Bei einer Schule wurde sodann eine Mustersanierung durchgeführt, bei einer zweiten wurden die PCS-Dehnungsfugen mit einer elektrischen Trennscheibe während des laufenden Unterrichts entfernt. Ein weiterer Mißstand ist die Weigerung des Oberbürgermeisters dieser Stadt, andere Gift- und Schadstoffe in Kindereinrichtungen und Schulen im PCB-Ausschuß zu behandeln. Das Ergebnis läßt sich wie folgt darstellen: In einer Schule wurden die künstlichen Mineralfasern (Glaswolle mit PCB-, PCP- und Lindan-Belastung) mit offenem Zugang zu den Innenräumen bei laufendem Unterricht entfernt. Anschließend wurden dann künstliche Mineralfaserplatten (Steinwolle) wieder eingebaut mit der zusätzlichen Belastung durch neurotoxische Substanzen wie z.B. Alkane. Man hat also einen Giftstoff durch einen anderen ausgetauscht mit der Folge, daß Kinder weiterhin gesundheitlichen Belastungen (Augenerkrankungen durch Mineraltaserplatten aus: Wohnen und Gesundheit, 1984) mit ungewissem Ausgang ausgesetzt sind und demnächst wieder eine kostspielige Sanierung ansteht.

St. Johann: 1994 wurde ein Kindergarten neu gebaut. Der Nachweis von polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK), PCP, Lindan, VOC (Toluol, Benzol, Alkane), Weichmachern (Di-{ethylhexyl)-phthalat (DEHP) 480.0mg/kg Hausstaub, Formaldehyd und künstlichen Mineralfasern konnte erbracht werden.

Bad Urach: In einem PCB-belasteten Gymnasium stellte eine Ärztin 1 Leukämieerkrankung pro Jahr auf 1000 Schülerinnen und Schüler fest.

Köln: Mehrere Schulen sind PCB-belastet.

Berlin: In Berlin-Steglitz hat ein verantwortlicher Politiker im öffentlichen Gesundheitswesen vorausschauend gehandelt und Kindereinrichtungen und Schulen im Stadtteil untersucht und saniert.

Darmstadt: Saniert PCB und andere Schadstoffe.

Ludwigshafen: Muß PCB-Sanierungen durchführen.

Bochum: Stehen PC8-Sanierungen an.

Bremen: Stehen PCB-Sanierungen an.

Hamburg: Stehen PCB-Sanierungen an, die sog. Grenzwerte wurden hochgesetzt.

Die Aufzählung bedeutet keine Vollständigkeit der zu sanierenden Kinder- und Schuleinrichtungen in Deutschland.

Das wahre Ausmaß der Gift- und Schadstoffbelastung der öffentlichen Einrichtungen würde den Rahmen dieses Briefes sprengen, kommen doch täglich neue Stoffsubstanzen hinzu, z.B. Weichmacher aus Sitzbällen, PCP aus Schulbüchern, Dioxinen aus Computergehäusen usw.

Der Nachweis, daß durch die Vielzahl der Substanzen in öffentlichen Einrichtungen eine synergistische Kombinationswirkung von Xenobiotika in subtoxischer Konzentration auf menschliche Fibrolasten einwirken, ist durch Frau Dr. Irene Witte, Uni Oldenburg, eindeutig wissenschaftlich erbracht worden.

Daß durch diese Vielzahl der gesundheitlichen Belastungen unsere heranwachsende Jugend zu einer "Zeitbombe" wird, wie es Kinderärzte im bayrischen Landesverband der Ärzte für Kinderheilkunde und Jugendmedizin feststellten (SZ, 29.12.95), ist als ein eindeutiges Versagen der Verantwortlichen zu sehen.

Für verantwortliche Politiker muß das eine Herausforderung sein, nicht nur die Kostenminimierung im Gesundheitswesen drastisch zu senken, sondern auch vordringlich ein Vertrauensverhältnis von Politik zu einer handlungsorientierten, vorausschauenden Gesundheitspolitik zum Wohle der Menschen zu werden.

Die Frage der Beteiligung an den Sanierungskosten nach dem Verursacherprinzip bedarf einer dringenden Neuüberlegung und sollte mit ein vorrangiges Ziel für die Regierung sein.

Mit der Bitte um Unterstützung für eine schnelle, durchgreifende und umfassende Sanierung von Schulen und Kindereinrichtungen in Deutschland und in der Hoffnung, daß alsbald Kinder das Recht haben, das Licht der Welt ohne Gift- und Schadstoffbelastung in ihrem Körper zu erblicken, verbleibe ich

mit freundlichen Grüßen

gez. Jürgen Jäger"