Bildungsstreik 25. Juni 2014

Rede zur Ökonomisierung von Bildung

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Studierende, liebe Kolleginnen und Kollegen! Solidarische Grüße nach Leipzig, Berlin, Köln, Rostock!

Die Tatsache, dass ihr heute alle hier seid, zeigt: Ihr setzt euch für Bildung ein. Nur was bedeutet Bildung im Jahr 2014? Eine öffentliche Angelegenheit? Humanistisch-demokratische Bildungsziele? Kritische, selbstbestimmte Bildung?

Wer hier mit JA antwortet, ist entweder naiv, Utopist, Heuchler oder - Politiker.

Ihr seid hier, weil ihr verstanden habt, dass umfassende Bildung, Persönlichkeitsentwicklung, freie Forschung und Lehre bedroht sind durch die Verbetriebswirtschaftlichung unseres Bildungswesens. Bildung als Ware. Menschen als marktkonforme Bildungsprodukte und „Humankapital“.

Wie es nun bildungspolitisch weitergehen kann, schildert euch jetzt jemand, der das viel besser kann als ich:

Begrüßt deshalb heute hier mit mir Dr. VERA TIMSS (mit Doppel-s), CEO des Unternehmens „Bildung schafft Zukunft“: - (Brille auf)

Ah, eine Demo. „Streik“ hab ich sogar gehört. Hab ich ja schon seit Jahren nicht mehr gesehen! In meinem Unternehmen gibt es das halt nicht. Wir haben so viel Corporate identity, dass wir keine Mitbestimmungsgremien brauchen – wie heißt das bei euch: SV, SSR, Asta, Personalrat? (überflüssig)

Im Übrigen ist das, was ihr hier macht, fürchterlich ineffizient in jederlei Hinsicht: In der Zeit, in der ihr hier krakelt, könntet ihr Geld verdienen und unsere krisengebeutelte Wirtschaft ankurbeln. Das hieße mal gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen, die ihr hier doch alle Nase lang einfordert! Weswegen seid ihr eigentlich hier? Ihr wollt politisch was erreichen? Das ist ja fast schon niedlich! Hat euch in der Schule keiner beigebracht, dass das Wahrnehmen des Demonstrationsrecht ein Mittel der Schwachen und Schwächsten ist? Wer Politik machen will, muss die Lobbymuskeln spielen lassen. Naja, wundert mich nicht, bei der schlechten Bildungsqualität, die uns ja spätestens seit PISA +TIMSS wissenschaftlich bestätigt wurde. Dumme Schüler, faule Lehrer – es ist höchste Zeit die Verschwendung von Steuergeldern hier zu beenden. Gut, dass meine Controller das Kultusministerium hier beraten: Unsere Formel: Bildung messen - Bezahlung nach Leistung! Schulinspektionen und Selbstständige Schulen haben wir ja schon erfolgreich durchgesetzt. Mit den Vergleichsarbeiten VERA wissen wir jetzt, was Schüler wissen und können. Wenn wir wissen, was Schüler wissen und können, wissen wir auch, was ihre Lehrer wissen und können. Und siehe da: im Handumdrehen ist die Leistung von Lehrern messbar und danach werden sie dann auch bezahlt. Das funktioniert in jedem Unternehmen – Ziele und Zahlen müssen einfach stimmen!

Weil sich Konzerne da schon besser auskennen als öffentliche Bildungseinrichtungen, unterstützen sie die Schulen und Hochschulen im Rahmen ihrer Social-Business-Activities auch gerne mit Finanzmitteln gegen ein wenig Werbung oder Mitspracherechte. An der Goethe-Uni gibt es das schon: Der Audimax gesponsert von Audi – wie kreativ, oder? - Sind hier Menschen von der Albert-Schweitzer-Schule? Ich habe gehört, das Schulgebäue, sei sehr marode? Was kann da gegen einen kräftigen ZuSCHUSS von erfolgreichen heimischen Unternehmen sprechen? Als Gegenleistung müssten Sie nur ihre Aula in „Heckler-und-Koch-Saal“ umbenennen. - Oder genügend Lehrmittel, daran fehlt es doch immer: Lasst doch die OECD eine Materialpatenschaft für alle Grundschulen übernehmen. Wir lernen das Alphabet dann nur nicht mehr in der traditionellen lateinischen Version, sondern ändern die Reihenfolge ein bisschen: Statt ABCD eben OECD.

Zum Schluss möchte ich mich mit meinem Wahlspruch verabschieden:

„Und ich glaub’ an Elite und an BWL und vor allem an G8. Denn wir brauchen Kinder, die funktionier’n, wer braucht schon ein Kind, das lacht?!“

(Brille ab)

Leider war Dr. VERA TIMSS nicht bewusst, dass ihr letztes Zitat von Konstantin Wecker aus seinem Lied „Absurdistan“ stammt. Das passiert wohl, wenn man zu viel delegiert. Im Übrigen findet auch gerade ein Verfahren zur Überprüfung ihres Doktortitels statt. Sie soll bis zu drei Ghostwriter bezahlt haben…Ist Bildung also käuflich? Darf schulische Grundbildung käuflich sein? (Und hier meine ich käuflich im doppelten Sinne: Bildung ist käuflich erwerbbar und Bildungsinstitutionen werden käuflich, d.h. instrumentalisierbar für Marktinteressen durch ihre drastische Unterfinanzierung!)

Dazu gehört, dass die demokratischen Gremien der Schulen aus reinem Pragmatismus umgangen werden.

Mitbestimmungsmöglichkeiten von Personalräten sind massiv eingeschränkt worden – (Schulleiter werden beispielsweise ohne Einwilligung der Personalräte eingesetzt.)

Genauso erging es den sogenannten drittmittelfinanzierten Stiftungsunis, geleitet durch einen nicht demokratisch legitimierten Hochschulrat.

Im Konstrukt der Selsbtständigen Schulen soll dieses Modell nun in den Schulen etabliert werden. Die Gesamtkonferenz entmachtet sich selbst und ein Schulvorstand soll über die Geschicke der Schule entscheiden. Historisch gesehen ist es mehr als fragwürdig, wenn ein demokratisch arbeitendes Gremium per Gesetz seinen Einfluss an eine Führungsclique abgibt.

Im gleichen Hessischen Schulgesetz steht: „Die Schulen sollen die SuS befähigen, in Anerkennung der Wertordnung des GG und der Hessischen Verfassung die Grundrechte für sich und andere wirksam werden zu lassen, eigene Rechte zu wahren und die Rechte anderer auch gegen sich selbst gelten zu lassen“

Das steht zwar auf dem Papier. Realität ist aber, dass spätestens seit der PISA-Studie unser Bildungssystem in neoliberaler Manier immer weiter umgekrempelt wird.

Die privatwirtschaftlich in Auftrag gegebene PISA-Studie hat also gezeigt, dass die deutsche Schülerschaft als „Humankapital“ nicht so gut „verwertbar“ ist, wie in anderen Nationen.

Und was tun unsere Kultusminister? Beten blind die Wirtschaftsinteressen nach – was nicht weiter verwundert, wenn mehr Juristen und BWLer im HKM sitzen als Pädagogen!

So kommt es zum Testterror mit Vergleichsarbeiten und Schulinspektionen angelegt an einen verkürzten Bildungsbegriff. Doch wie misst man den Bildungsbegriff des Schulgesetzes? – Ich würde vorschlagen: Mit der Anzahl der Lehrenden und Lernenden, die für Persönlichkeitsbildung und Demokratiefähigkeit  auf die Straße gehen - auch wenn ihnen mit Repressalien gedroht wird!

Doch Spaß beiseite: Persönlichkeit und Demokratiefähigkeit sind komplex und nicht durch Testbögen abfragbar!

Jedoch werden schlechte Testergebisse durch sytematisch herbeigeführte Finanzierungslücken als Versagen der Lehrkräfte oder der Lehrerbildung interpretiert. Bessere Ausstattung als Konsequenz: Fehlanzeige.

Die öffentlichen Schulen und Hochschulen stehen mit ihrer drastischen Unterfinanzierung vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder der Putz bröckelt weiter von den Wänden oder man holt sich dort Hilfe, wo es Geld gibt. Private Unternehmen helfen aber nicht – sie investieren und möchten einen Gegenwert. Geschäftliche Werbung ist nunmehr nicht nur an den Universitäten sondern auch in der Schule[1] erlaubt.

Staatliche Hochschulen sind immer mehr auf Drittmittel angewiesen. So ist beispielsweise der Drittmittelanteil von 33 Prozent (1995) auf 45 % (2010) gestiegen[2]. Macht nichts? Macht wohl was. Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.

(Dabei steht im Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan Kinder sollen „Sich selbst bestimmen lernen, anstatt sich von fremdem Aktionismus, Animation und Konsumverhalten bestimmen zu lassen.“[3])

Bleiben wir beim Paradoxen: Die klamme öffentliche Hand finanziert munter Privatschulen für 270 mio Euro und private Hochschulen wie die EBS für 24,7 mio Euro weiter.

Dabei hätten Privatschulen auch schon ohne öffentliches Pämpern enormen Zulauf. Warum?

In unseren Schulen fehlt es häufig schon am Grundlegenden. Wenn Schulen systematisch verrotten, weil sie nicht auskömmlich finanziert werden. Wenn die Toiletten so aussehen, dass sich die Kinder zu Recht davor ekeln, sie zu benutzen, wenn Förderung nur auf dem Papier existiert und nicht beim Lernenden ankommt, dann werden jeden Tag gute Argumente für Eltern geschaffen, dem staatlichen Bildungssystem den Rücken zu kehren, wenn man es sich denn finanziell leisten kann. Das ist der systematische Weg zur Verschärfung des in Deutschland ohnehin sehr dominanten Zusammenhangs von Reichtum und Bildungschancen. Bildung wird nicht als Recht verstanden, sondern als Privileg.

Am Ende des Umbaus unseres Bildungswesens könnte die Erkenntnis der Politik stehen, dass Bildung nicht mehr zur Kernkompetenz des Staates gehört.

Am Ende könnte der Staat argumentieren, dass eine Zuzahlung zu privat organisierter Bildung billiger ist als die Bildung selbst zu bezahlen[4].

Am Ende der in G8 gequälten Leistungserbringer könnte die Erkenntnis betuchter Eltern stehen, dass für ihr Kind eine privat finanzierte Nische der Ausweg ist.

Am Ende könnte es so sein, wenn es so weitergeht. Aber nur, wenn wir es mitmachen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen: Lasst uns täglich dafür eintreten, dass Bildung etwas mit Werten und gesellschaftlichen Zielen zu tun hat. Mit der Ausbildung zum vernünftigen, kritischen Menschen; mit Aufklärung   und der Erziehung zur Mündigkeit  - und gegen soziale Selektion!

Wenn also ein Gegengewicht zur Wirtschaft und ihren Verwertungsinteressen gesellschaftlich gewünscht ist, muss es heißen: Bildung ist ein Menschenrecht, Bildung darf nicht privatisiert werden. Wissenschaft muss dem Menschen dienen.

Als Lehrerin der Geschwister-Scholl-Schule möchte ich mit einem Zitat aus dem 3. Flugblatt der Weißen Rose schließen:

“Wenn aber ein Mensch nicht mehr die Kraft aufbringt, sein Recht zu fordern, dann muss er mit absoluter Notwendigkeit untergehen."


[1] DO für Lehrkräfte, Schulleiter und Sozialpäd.Mitarbeiter, Abl. 12/11, §10(2)
[2] Hans-Carl Schultze, Ulrich Stoll und Gregor Witt, Gekaufte Wissenschaft? Firmen finanzieren Hochschulforschung. Manuskript zur Sendung Frontal21, ZDF, 09.04.2013
[3] BEP,2007,S.81
[4] In diese Richtung etwa: Ludger Wößmann, Wettbewerb durch öffentliche Finanzierung von Schulen in freier Trägerschaft als wichtiger Ansatzpunkt zur Verbesserung des Schulsystems, ifo Schnelldienst 1/2011, www.cesifo-group.de/portal/page/portal/ifoContent/N/event/mucsem/mucsem-infopages/mucsem20101206/ifosd_2011_1_1_3.pdf