Beitrag von Karl-Heinz Heinemann

Selbständig werden Menschen erst, wenn nicht mehr sie für die Lern- und Arbeitswelt fit gemacht werden, sondern umgekehrt

Ein sehr lesenswerter Beitrag von Karl-Heinz Heinemann in "der Freitag, Nr. 36, 3.September 2009

Auslese mal ganz anders
Wie sollte die Bildungsrepublik von morgen aussehen? Eine Entgegnung auf Christian Füller
Christian Füller führt uns die Kultusminister und Ministerpräsidenten vor, die im kleinlichen Kompetenzgerangel ihre föderalen Kleingärten pflegen, und wir kennen selbst die Schulbehörden, die Lehrern verbieten, keine Noten zu geben. Grundschullehrerinnen müssen in der vierten Klasse sortieren, Hauptschullehrer können sich mühen, wie sie wollen – für die meisten ihrer Zöglinge wartet nur das „Übergangssystem“. Kurz: da oben begegnet uns Ignoranz und Zynismus. Eine Qual für den ständigen Beobachter, den Journalisten also, der darüber und dagegen schreiben muss. Ich bin ein Füller-Versteher. Mehr Lehrer, gebührenfreies Studium, vergiss es. Es hört doch keiner mehr hin. Die einschlägigen GEW-Pressekonferenzen sind auch nicht prickelnder als die der KMK.
Da freut man sich an jeder Bewegung von unten. Man muss nicht einmal, wie Christian Füller, einen der Gnadenorte deutscher Schulreform, wie die Wartburg-Grundschule in Münster oder die Gesamtschule in Bonn-Beuel besuchen, um Lehrerinnen und Lehrer zu treffen, die mit Empathie und Engagement Kindern und Jugendlichen zeigen, was sie selbst können, die ihnen helfen, ihre Beziehungen zu anderen Menschen und Gegenständen zu entwickeln, kurz, sich zu bilden. Doch halt, da verlassen wir schon die Füllersche Argumentation, denn von Bildung ist bei ihm keine Rede. Er ist auf der Suche nach „modernem Lernen“, das „fit macht“ für die „Lern- und Arbeitswelt von morgen“.

Gnadenlose Qualitätsmanager
Aber wollen wir nicht auch die Schulen aus dumpfer staatlicher Zwangsverwaltung befreien? Und mit Christian Füller nach einem „intelligenten Design von zentraler und lokaler Verantwortung“ suchen, ohne Staat. Stattdessen mit dem von ihm herbeigewünschten „starken zentralen Schul-TÜV“?
Wieso eigentlich? Das TÜV-Paradigma hat längst Einzug gehalten: Output-Steuerung, schlanke Lehrpläne, mehr Freiheit bei der Personaleinstellung, in etlichen Bundesländern hat die, in diesem Zusammenhang muss der Name nun mal fallen, Bertelsmann-Stiftung dafür gesorgt. Aber weniger Bürokratie? Jetzt sitzen nicht mehr bräsige Schulräte hinten im Klassenzimmer, sondern Qualitätsmanager, 4Q-Inspektoren, und wie sie sonst noch heißen, huschen mit ihren Checklisten im Viertelstundentakt durch die Klassenzimmer. In Berlin bastelt ein KMK-Institut an Standards, und die Kultusminister machen sich längst anheischig, dicke Lehrpläne durch dünne Kompetenzkataloge zu ersetzen. Aber auf die pochen sie dann auch, und im engmaschigen Netz von Selbst- und Fremdevaluationen, Schulinspektionen, Vergleichs- und zentralen Abschlussarbeiten werden sie jeden erwischen, der da noch in einer Nische seine Sonderwege gehen will. Die dicken Lehrpläne von früher hatten gerade mal zehn Prozent der Lehrerinnen und Lehrer jemals in der Hand gehabt.

Ja, jetzt braucht es starke und geschulte Manager in den Schulleitungen, mit Erfahrungen aus der „Wirtschaft“ und den besten Governance-Schools, wie sie sich Christian Füller wünscht. Allein schon, um die diversen zentralen Prüfungen, Vergleiche und Tests in ein ordentliches Zeitraster zu kriegen, und den TÜV-Inspektoren ihre Berichte zu schreiben. Da müssen dann auch schon mal Klassenfahrten, Exkursionen und sonstige pädagogische Luxusveranstaltungen ausfallen, um den Anforderungen der „Schul-TÜVs“ gerecht zu werden.

Drei große Prüf-Konzerne firmieren heute unter dem Label TÜV, die, privatwirtschaftlich organisiert, technische Standards überwachen. Auf dem Bildungsmarkt haben die großen Evaluationsfirmen PISA organisiert und abgerechnet – im Auftrag und auf Rechnung der OECD: CITO in den Niederlanden, das ETS aus den USA und das Australian Council of Educational Research, um nur die Größten zu nennen. Sie wurden von niemandem gewählt. Sie sind nur der Statistikabteilung der OECD rechenschaftspflichtig. Das unterscheidet sie von den Kultusministern. Zugegeben, von den derzeit amtierenden würde ich persönlich jetzt niemanden wählen. Trotzdem ist mir diese Form von öffentlicher Kontrolle noch geheurer als eine Legitimation durch die Macht auf dem Markt der Schul-TÜVs.

Und das ist nur einer der Gründe, weshalb ich Füllers Idee einer Bundes-Bildungsstiftung als Steuerungsinstanz anstelle von Parlamenten und Ministerien für schlichten Unfug halte. Keine demokratische Legitimation, sondern Legitimation über Geld und Markt. Die Schulen bewerben sich, da sitzt ein – von wem gewähltes? – Auswahlgremium und entscheidet – nach welchen Gesichtspunkten? – über die Vergabe von Geld an die wie auch immer ausgewiesenen Besten. Das ist die Exzellenzinitiative für die Schulen. Schluss mit der Gleichmacherei – die Guten werden belohnt, die Müden bestraft. Der starke Schulleiter wird sich nicht nur die besten Lehrerinnen aussuchen, sondern auch die Schüler, die ihn beim TÜV gut aussehen lassen. Das konnte man schon an den thatcherisierten Schulen in England studieren. Und wenn er von der starken Stiftung seine Boni kassiert hat, dann hat er auch genug Geld, um weiter bessere Lehrer von den Schulen abzuwerben, die sich nach Duisburg-Rheinhausen, Berlin-Neukölln oder Köln-Kalk verirrt haben. Das kann man alles durch irgendwelche Regeln steuern? Ganz unbürokratisch?

Grundrecht Bildung
Christian Füller möchte Vertragsschulen statt Staatsschulen. Sie hätten die Freiheiten von Privatschulen, kombiniert mit sicherer und angemessener Bezahlung der Lehrer. Aber das ist gar nicht das Problem. Der Staat wird doch nicht (nur) gebraucht, um den Lehrern das Gehalt zu garantieren. Sondern weil er erstens den Anspruch jedes Bürgers, jeder Bürgerin auf eine angemessene Bildung sichert, und zweitens weil ein öffentliches Bildungswesen zur Integration der Gesellschaft beitragen muss – keine Parallelgesellschaften, gestiftet in der Kiezschule oder der International School. Der Anspruch steht zumindest hinter dem Artikel 7 des Grundgesetzes, der die staatliche Schulaufsicht als Grundrecht fixiert. Geschenkt, dass die Realität dem Hohn spricht. Aber deswegen kann ich doch den Anspruch darauf nicht preisgeben!

Genug des Lamentierens über Füllers Modell. Bleibt noch seine „Schlüsselfrage“, nämlich: wie sieht modernes, selbstständiges Lernen aus? Schulen (und Schüler) „…fit machen… auf die Lern- und Arbeitswelt von morgen“ – ist es das? Irgendwie schon. Fit – also passend – machen, selbst das erreicht die Schule von heute nicht. Aber das ist nicht genug. Selbstständig werden Menschen erst, wenn nicht mehr sie für die Lern- und Arbeitswelt fit gemacht werden, sondern umgekehrt, wenn sie sich ihre Welt „fit machen“, also passend gestalten können. Zumindest diesen Anspruch sollten Schule und Bildung bewahren. Und dann kommen wir wieder auf ganz langweilige Themen.
Der erste Punkt: Alle Kinder und Jugendlichen haben einen Anspruch darauf, dass sie die Schule mit den Fähigkeiten verlassen, die sie brauchen, um nicht nur an der Arbeit, sondern auch am öffentlichen Leben teilnehmen zu können – also die Beherrschung einer elaborierten Sprache, Wissen darum, wo sie herkommen und wo die Welt hingehen kann, die Fähigkeit, darüber zu reflektieren, wo sie hingehen sollte. Dafür sind Standards und Kontrollen notwendig – demokratisch legitimiert, nicht von einer Stiftung oder einem TÜV.

Der zweite Punkt: Wir brauchen eine öffentliche Schule für alle, statt Exzellenzwettbewerben. Eine Schulwelt, in der die Schwachen (Schüler, Schulen und Lehrer) besonders gefördert werden, damit jeder, und nicht nur eine Elite, seine Eigenarten ausbilden kann. Also Gemeinschaftsschule, Ganztagsschule statt Aussonderung und dem Primat der Vererbung von Status und kulturellem Kapital.

Der dritte Punkt: Schulleiter sollten nicht nur Manager sein, sondern Pädagogen. Notwendig sind Freiräume für Lehrerinnen und Lehrer, die Beziehungen stiften können, zu anderen Menschen und zu den wichtigen Gegenständen. Das konnten die skurrilen Typen in der Feuerzangenbowle, die Füller so schlimm findet, auf ihre Art auch.

der Freitag