"Neuen Mittelschule"

Stellungnahme des GEW-Landesvorslands

Die sog. "Neue Mittelschule" wie sie die Hessische Landesregierung ab dem Schuljahr 2010/11 einführen will, wird von der GEW Hessen abgelehnt.

Fakt ist, das bereits jetzt fast niemand mehr sein Kinder freiwillig im Bildungsgang Hauptschule anmeldet. Um aber diesen Bildungsgang nicht gänzlich sterben zu lassen, sollen zukünftig Haupt- und Realschulklassen bis in Klasse 7 zusammengefasst werden.

 
Mit dem gemeinsame Lernen von Haupt- und Realschülern von Klasse 5 bis 7 und das de-facto Ausweiten der Schulzeit für alle Schülerinnen und Schüler auf 10 Jahre wird nur das nachvollzogen, was ohnedies an den meisten Schulen Hessens mit Haupt- und Realschulbildungsgang gängige Praxis ist. So bleibt unter dem Strich, dass das Modell der "Neuen Mittelschule", wie sie die hessische Landesregierung einführen will, die Selektion im gegliederten Schulwesen in Hessen nicht reduziert.
 
Im Gegenteil: Unter dem Deckmantel der angeblich individuelleren Förderung wollen (DU und FDP mit ihrer "Neuen Mittelschule" das System der individuellen Auslese verfestigen und das Überleben des gegliederten Schulsystems sichern.
 
Die Alternative sieht die GEW demgegenüber im längeren gemeinsamen Lernen in der Sekundarstufel, wie es an den hessischen integrierten Gesamtschulen erfolgreich praktiziert wird.
 
Erfahrungen aus der Schulpraxis, gerade an Grund- und Gesamtschulen mit integrierten Bildungsgängen sprechen gegen das Modell der "Neuen Mittelschule" und die wissenschaftlich nicht haltbar Theorie von den quasi genetisch bedingten Begabungsprofilen, wie sie Henzler und Koch als Begründung für ihre Reform anführen: Immer wieder gibt es Schüler, die sich nach pubertätsbedingten Tiefs fangen und noch im 9. oder 10. Schuljahr die Kurve zu höheren Abschlüssen kriegen. Gerade Jugendliche mit Migrationshintergrund haben oft Entwicklungs- und Lernrückstände, die sie mitunter überraschend schnell überwinden können. Die Perspektive besserer Abschlüsse und weiterqualifizierender Bildungsgänge auf weitedührenden Schulen, wie sie die IGS
bietet, ist dann sehr motivierend. Nur sie verbessern die Aussichten, einen attraktiven Ausbildungsplatz zu finden.
 
Den Schülerinnen und Schülern, die letztendlich im Bildungsgang Hauptschule der "Neuen Mittelschule" landen, wird der Anteil der allgemeinbildenden Schulfächer um bis zu 50% gekürzt. Die anderen 50% dienen der "Berufsvorbereitung". Mit der Behauptung, angeblich "individuellere Förderung" zu gewährleisten, wollen CDU und FDP mit ihrem Reformmodell tatsächlich jedoch das System der individuellen Auslese verfestigen und das Überleben des gegliederten Schulsystems sichern. Das Ziel, die Chancen der Haupt- und Realschüler zum Erlangen eines zukunftsfähigen Ausbildungsplatzes zu verbessern, kann nicht erreicht werden.
 
Die Fakten sprechen für eine längere und breitere allgemeinqualifizierende schulische Bildung und gegen das Konzept der "Neuen Mittelschule": Jugendliche aus Hauptschulen stellen nur in 12 Bendsgruppen des Handwerks - im Bau-, Ausbaugewerbe, im Ernährungsgewerbe und in personenbezogenen Dienstleistungsberufen (Friseur/Friseurin) - die Mehrheit. Auch hier kommt bereits ein Drittel bis zu einem Viertel der Anfänger aus Realschulen. In den technischen Berufen sind Hauptschulabsolventen inzwischen die Minderheit, bei den kaufmännischen und den anspruchsvollen Facharbeiterberufen kommen sie seltener vor als Jugendliche mit Mittlerem Abschluss oder Abitur. Darüber hinaus gelingt nur noch jedem zweiten Hauptschulabsolventen ein direkter Übergang in ein Ausbildungsverhältnis. Die übrigen sind angewiesen, sich im Übergangs-
system zusätzlich zu qualifizieren. Erschwerend kommt hinzu, dass die adäquate Beschäftigung  nach dem Abschluss der Lehre deutlich zurückgeht. Davon sind vor allem Auszubildende in den Handwerks- und den personenbezogenen Dienstleistungsberufen betroffen.
 
Aber auch die RealschuIabsolventen der "Neuen Mittelschule" werden benachteiligt: Die verstärkte Berufsvorbereitung auch in ihrem Zweig geht zu Lasten der Anteile der allgemeinbildenden Fächer, die nur noch an vier Tagen unterrichtet werden sollen. Die Chancen des Übergangs in die gymnasiale Oberstufe sinken. Aber selbst bei formaler Eignung werden sich die Wissenslücken in den allgemeinbildenden Fächern negativ auf ein erfolgreiches Bestehen der 11. Klassen von Gymnasien und Fachoberschulen auswirken. Darüber hinaus gilt auch für Realschulabsolventen: Selbst mit Mittlerem Abschluss sind die Ausbildungsaussichten nicht zufriedenstellend. Sie müssen verstärkt mit Abiturientinnen und Abiturienten konkurrieren. Diese bilden bereits die
Mehrheit im oberen der vier Segmente von Ausbildungsberufen, die entweder neu geschaffen oder modernisiert wurden.
 
Jugendliche müssen möglichst optimal und umfassend auf die Zukunft vorbereitet werden: Es wächst der Bedarf an Hochqualifizierten, der an Geringqualifizierten geht immer weiter zurück. Eine Einschränkung einer breiten Allgemeinbildung zugunsten der Vermittlung begrenzter handwerklicher Fähigkeiten und dem Dauereinsatz in Betriebspraktika, in denen Jugendliche oft nur als Zuschauer und Handlanger eingesetzt werden, ist keine Ausschöpfung von Begabungsreserven, sondern deren Vergeudung. Die Alternative ist das längere, gemeinsame Lernen bis Klasse 10 für alle. Natürlich mit Betriebspraktika in den Abschlussklassen, natürlich mit Berufsorientierung in einem Fach Arbeitslehre, aber auch mit der gesamten Palette des naturwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Unterrichts sowie den Fächern im kreativen Bereich wie Musik und Kunst. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Vorbereitung auf das spätere Berufs- und Arbeitsleben nur ein Teil des schulischen Bildungsauftrages ist. Zu einer möglichst breiten Allgemeinbildung gehört es, die Jugendlichen auf eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und demokratischen Leben in der Gesellschaft zu befähigen.