Keine "Demo für alle"

Eindrücke von der Demonstration am 30. Oktober 2016 in Wiesbaden

Die Gegendemonstration gegen "Demo für alle" in Wiesbaden war mit großem Zuspruch und Beteiligung aus vielen Bereichen und Gruppierungen unserer Gesellschaft ein großer Erfolg. Für die GEW hat Manon Tuckfeld eine Rede gehalten, die wir hier veröffentlichen:

 

 

 

Redebetrag von Manon Tuckfeld
(GEW - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Vorstandsteam des Kreisverbandes Wiesbaden-Rheingau, Vorsitzendenteam Bezirksverband Südhessen) anlässlich der Demonstration ‚Ihr seid nicht alle‘ in Wiesbaden am 30.10.2016

 

Die u.a. von Rio Reiser geschriebene Liedzeile der Band Brühwarm aus dem Jahr 1978

„Wann fangen wir endlich an warm zu leben und nicht nur nachts homosexuell zu sein“ begleitete mein schon früh politisiertes Leben.

Erfreulich, dass sich seitdem vieles verändert hat und Homosexualität sichtbar und öffentlich wurde.

Dies zeigt:

Eine Veränderung der Normalität ist möglich.

Und nötig! 

Vor nicht einmal 500 Jahren musste erst kirchenoffiziell festgestellt werden, dass indigene Menschen tatsächlich Menschen sind. Bis zu dieser Zeit waren diesen Menschen Sachen, Kriegsbeute, Ware.

Die ethnisch-rassistisch begründete Versklavung fand ihr Ende erst im letzten Jahrhundert.

Gut aber, dass heute Sklaverei durch die Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte geächtet ist.

Der bekannte deutsche Industrielle Alfred Krupp verkündete seinen Arbeitern noch 1877, dass diese ihm mit Leib und Seele gehören. Jeder, der auch nur beim Lesen sozialdemokratischer Zeitungen erwischt wurde, wurde aus der ‚Krupp-Familie‘ in die Arbeitslosigkeit aussortiert.

Gut, dass heute niemand mehr Arbeiter mit Leib und Seele besitzt.

Rechtlich gesehen war bis 1997 Definitionsmerkmal der Vergewaltigung, dass diese ‚außerehelich‘ geschah.

Gut, dass heute das verbriefte Recht Nein zu sagen auch für das Ehebett gilt.

Bis 1973 gab es in Bayern das obergerichtlich bestätigte, gewohnheitsmäßige körperliche Züchtigungsrecht von Lehrern an Schülern.

Gut, dass heute die Prügelstrafe als das gesehen wird, was sie ist: eine Körperverletzung.

Nicht nur vorstellbar, sondern Realität ist, dass das Wort ‚schwul‘ heute noch - und heute wieder verstärkt - zu den beliebtesten Schimpfwörtern auf den Pausenhöfen deutscher Schulen gehört und dass es mitnichten als normal gilt, ob als Lehrer oder Schüler, zu anderen sexuellen Orientierungen auch in Schulen offen zu stehen.

Eigentlich heißt es:

Was in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft kontrovers ist, muss unter dem Gebot der Kontroversität in Lehre und Unterricht Eingang finden.

Diese Maxime wendet nun der neue hessische Lehrplan auch auf die Frage von Lebensstilen und sexuellen Orientierungen an.
Eine Selbstverständlichkeit – eigentlich!

Doch Teile der katholischen Kirche, rechtsevangelische Pressuregroups und Teile der organisierten Elternschaft fühlen sich bedroht. In ihren christlichen und moralischen Vorstellungen erschüttert.
Der Bischof von Fulda segnet sogar die sogenannte ‚Demonstration für Alle‘.

Teile der Kirche greifen zum Vorwurf der Indoktrination.
Doch wer indoktriniert hier?
Wer will denn einer Gesellschaft vorschreiben, wie sie zu leben und wie sie zu lieben hat? Wer will denn seine Wertvorstellungen allen aufzwingen und Alternativen dazu unterdrücken?

Ich habe im Lehrplan Sexualerziehung keine Stelle gefunden, aus der hervorgeht, dass Ehe und Heterosexualität diskriminiert und an den Pranger gestellt werden sollen.

Im Übrigen - und mit Bezug auf den Pranger und die Indoktrination - kann festgestellt werden, dass die Kirche hier deutlich mehr Erfahrung hat als die Lehrerschaft!

Auch die Teile der Kirche, denen die Akzeptanz fehlt, Anderes anzuerkennen, sollten, auf ihre Geschichte zurückblickend, feststellen, dass sie oft blutig geirrt haben und ihr Engagement gegen eine plurale und weltoffene Gesellschaft einstellen.

An die Adresse der Eltern, die diesen Lehrplan kritisieren, sei Folgendes gesagt: Die Vorstellung, dass Lehrer in Schülern sexuelle Orientierungen, die diese nicht fühlten, erwecken könnten (oder wollten), ist irrig.

Lehrer sollten ihren Schülern aber die Möglichkeit geben, in den Phasen von Entwicklung und Unklarheit über ihre geschlechtliche und gesellschaftliche Rolle die Vielfalt zu erkennen. Dies einerseits, um die eigene Persönlichkeit frei und selbstbewusst entwickeln zu können und andererseits, um andere Lebensstile und Orientierungen als gleichwertige Möglichkeiten in einer aufgeklärten Gesellschaft anzuerkennen.

Ich bin froh, dass mir das 50iger-Jahre-Bild der dienenden Hausfrau und Mutter nicht mehr aufgezwungen werden kann und sich die Gesellschaft von diesem weitestgehend frei machen konnte.

Und hier erwarte ich von Allen in dieser Gesellschaft,
- auch von denen, die unter dem anmaßenden Begriff ‚Demonstration für Alle‘ auftreten
von Allen in diesem Staat
- auch von der Partei, die nur für Offenheit eintritt, weil dafür der Flughafen ausgebaut wird
und von allen christlichen Kirchen
- die die Zeit der Aufklärung / und die Anerkennung der Menschenrechte endlich produktiv bewältigen sollten von allen erwarte ich, dass sie ihre ein- und zugleich ausgrenzenden Normalitätskonzepte ablegen.

Und dies nicht nur in Form der Toleranz, also nicht nur in Form des Ertragens des Andersseins, sondern der Akzeptanz.

Denn Normalitätskonzepte sind immer dann Zwang, wenn sie mit der ideologischen Doktrin des ‚Normalen‘, des unhinterfragbar Natürlichen, des Biologischen daherkommen und diese Doktrinen zum undiskutierbaren Fundament einer gesellschaftlichen Ordnung erklärt werden.

Anders ausgedrückt:

Was wir hier erleben, was uns der Bischof von Fulda, was uns Pegida und andere erklären - das ist der Versuch eines Kulturkampfs gegen die aufgeklärte Modere.

Dem sollen und müssen sich die Schule, die Lehrkräfte und Menschen unterschiedlichster Überzeugungen entgegenstellen.

Normen ändern sich. Und das ist gut so.
Die Schule muss ein Ort der Erkenntnis über sich verändernde und divergierende Wertvorstellungen sein.

Schule muss aber insbesondere aktiv gegen Ausgrenzungen vorgehen.
Auch die Konfrontation mit reaktionärem Gedankengut und diskriminierenden Schimpfworten, die von den Stammtischen (bzw. heute eher dem Hatespeech der Social Media) auf die Schulhöfe gelangen, gehört dazu.

Ich danke für eure Aufmerksamkeit.