Der Anschlag auf die Hessische Verfassung

Die bürgerlichen Parteien – CDU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen – versuchen zum zweiten Mal, die Hessische Verfassung, deren 70-jähriges Bestehen sie noch kürzlich bombastisch gefeiert haben, in ihrem Wesensgehalt zu verändern. Wir wollen darauf aufmerksam machen, bevor es zu spät ist.

In einem „Verfassungskonvent“, dessen Ziel die „Überarbeitung“ und „Modernisierung“ der Hessischen Verfassung sein soll, liegen zahlreiche „Änderungsvorschläge“ dieser Parteien und ihnen nahestehender Wirtschaftsverbände vor, die auf die Artikel 27 bis 47 der Verfassung zielen. Aus vielen dieser Artikel sollen ganz Absätze verschwinden, einige sollen einen ganz anderen Sinn erhalten, einige der Artikel sollen nahezu „entkernt“ werden. 

Die Artikel 27 bis 47 regeln „Soziale und wirtschaftliche Rechte und Pflichten“. Sie sind an Deutlichkeit nicht zu überbieten. In den 1960er Jahren waren an hessischen Schulen Bücher in Gebrauch, die diese Artikel den Kindern im Einzelnen einprägen sollten. Das hat sich gelohnt. Diese Artikel bestimmen das „Recht auf Arbeit“, sie erkennen Gewerkschaften und Streikrecht – auch für Beamtinnen und Beamte – ausdrücklich an und verbieten die Aussperrung. Ebenso ausdrücklich erkennen sie den Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ an. Sie regeln eine demokratische Wirtschaftslenkung (heutiger Jargon: „eine bürokratisch-ineffektive, sozialistisch-undemokratische Planwirtschaft“). Sie anerkennen das kapitalistische Privateigentum, setzen ihm zugleich aber enge Grenzen, darin vergleichbar dem Artikel 14 Grundgesetz. Sie regeln in Artikel 41 die „Sofortsozialisierung“ bestimmter Wirtschaftszweige und eine staatliche Beaufsichtigung anderer Branchen sowie in Artikel 42 eine Bodenreform, durch die der Großgrundbesitz, „der nach geschichtlicher Erfahrung die Gefahr politischen Mißbrauchs oder der Begünstigung militaristischer Bestrebungen in sich birgt“, eingezogen werden soll (Art. 42 Abs. 1 HV). 

Das ist des Pudels Kern: Gerade diese Artikel sind es, zu denen haufenweise „Änderungsvorschläge“ vorliegen. In der fünften Sitzung der Enquetekommission des Landtages zur „Verfassungsreform“ am 12.9.2016 ließen es die Vertreterinnen und Vertreter der bürgerlichen Parteien denn auch an Deutlichkeit nicht fehlen. Nach Auffassung von Christian Heinz, dem CDU-Abgeordneten aus dem mondänen Main-Taunus-Kreis, „gibt es im Landtag … (bei den drei bürgerlichen Parteien, A. S.) anscheinend den Willen, den Artikel (41, Sofortsozialisierung, A. S.) komplett zu streichen, insbesondere da ein Widerspruch zu Art. 14 GG (Eigentumsgarantie und Sozialpflichtigkeit des Eigentums, A. S.) zu erkennen ist.“ Das ist schlicht nur eine Auffassung neben anderen zur Interpretation des Grundgesetzes; wir selbst vertreten die Auffassung, dass das schlicht nicht zutrifft. Der grüne Abgeordnete Frank-Peter Kaufmann hat eine solch plumpe Interessenpolitik gar nicht nötig, er ergeht sich in dem parteitypischen Zynismus. „Wann können wir die Initiativen der SPD-Fraktion zur Überführung der Firma K + S in Gemeineigentum erwarten? Denn die Vorgabe der Verfassung, auch den Kalibergbau in Gemeineigentum zu überführen, haben Sie gerade mit verteidigt“, will er laut Sitzungsprotokoll, Seite 42, wissen. Als ob es nun ausgerechnet um irgendeinen ordinären Kaliproduzenten ginge. Wem das alles nicht genügt: In derselben Sitzung wurden von den bürgerlichen Parteien auch die Artikel 29 Absatz 5 (Verbot der Aussperrung) und 38 (Wirtschaftslenkung) angegriffen und in Frage gestellt. Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn, Abgeordneter der FDP, hält es für möglich, dass „Art. 38 … sicherlich ganz am Ende der schon häufig von mir beschriebenen ‚Nacht der langen Messer‘ behandelt“ werde, „wenn es darum geht, eine fraktionsübergreifende Lösung zu finden.“ Wir wissen nicht, inwiefern und wie „lange Messer“ tauglich dafür sein könnten, „Lösungen“ zu finden. Ganz offensichtlich weiß der Mann aber nicht einmal, wann es in Deutschland zuletzt eine „Nacht der langen Messer“ gegeben hat. 

Um zu verstehen, was es mit diesen „Änderungsvorschlägern“ auf sich hat, müssen wir daher zuerst historisch argumentieren. Warum sehen die Artikel 27 bis 47 eine solche deutliche Stärkung der gesellschaftlichen Position der abhängig Arbeitenden und ihrer Gewerkschaften vor? Maßgebend hierfür war das nach 1945 so starke antikapitalistische Bewusstsein, das Bewusstsein darüber, dass das deutsche Großkapital ganz direkt an der Installierung des Nazi-Regimes beteiligt war. „Das Monopolkapital hat Hitler zur Macht verholfen, und in seinem Auftrag hat es den großen Raubkrieg gegen Europa vorbereitet und geführt … Die Demokratie ist erst in einem sozialistischen Deutschland gesichert“, wie es der damalige SPD-Vorsitzende (West), Kurt Schumacher, im Sommer 1945 formuliert hat. Aus diesem Bewusstsein heraus wurde die Hessische Verfassung in dem berühmten Volksentscheid vom 1. Dezember 1946 angenommen. Dabei hatte der amerikanische Zonenbefehlshaber, Lucius D. Clay, darauf bestanden, dass über Artikel 41 der Verfassung (Sozialisierung) im Rahmen des Entscheids gesondert abzustimmen war, befand sich die US-Militärregierung doch bereits wieder auf einem prokapitalistischen Kurs. Ergebnis dieses speziellen Entscheids: Nicht weniger als 72 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten für den Artikel 41! Daraufhin suspendierte der Herr General den Artikel, denn es kann nicht sein, was nicht sein darf, und die Demokratie ist dann zu Ende, wenn die hessische Bevölkerung etwas anderes will als den ihr verordneten Kapitalismus.

Deutlich zeigt sich die besondere Qualität der Hessischen Verfassung: Die damalige Arbeiterbewegung war so stark, das antikapitalistische Bewusstsein so prägnant, dass dem Bürgertum ein Machtkompromiss abgenötigt werden konnte. Übrigens hat auch die hessische CDU damals zur Annahme des Artikels 41 aufgerufen. Man erinnert sich an die berühmten Formulierungen des Ahlener Programms der CDU der britischen Zone vom Februar 1947: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.“ Der private Kapitalismus – so dieser Kompromiss zwischen der Arbeiterbewegung und dem Bürgertum damals - ist möglich, aber möglich sind eben auch massive Eingriffe in das kapitalistische Wirtschaftssystem. Möglich ist damit auch eine demokratisch-sozialistische Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Zurück in die Gegenwart. Deutlich wird nun, was mit den „Änderungsvorschlägen“ und Streichungssehnsüchten der bürgerlichen Parteien gemeint ist. Natürlich wissen wir genau wie diese Parteien oder wie die zynischen Kaufmänner, dass es momentan keine starke gesellschaftliche Kraft in der Republik gibt, die dem aufgezeigten möglichen Weg der Hessischen Verfassung folgen wollte. Es handelt sich dabei um nichts Geringeres, als den „unerledigten Verfassungsauftrag“ zu erfüllen, wie ihn Wolfgang Abendroth immer wieder in seiner Grundgesetzinterpretation dargelegt hat. Eben um diese Möglichkeit geht es hier, es geht darum, dass dieser Weg eingeschlagen werden könnte, die Möglichkeit Wirklichkeit würde. Dem will man endgültig einen Riegel vorschieben: Die bürgerliche Eigentumsordnung, das kapitalistische Privateigentum, das Privateigentum an Produktionsmitteln ist erst dann wirklich sicher, wenn auch eine solche Möglichkeit aus der Verfassung getilgt ist. Das ist der Grund dafür, warum die superkapitalistische FDP auch schon einmal die Streichung des Artikels 15 (Sozialisierung) aus dem Grundgesetz gefordert hat. 

Es ist deshalb unerlässlich, darauf aufmerksam zu machen, was es mit dem Anschlag auf die Hessische Verfassung auf sich hat. Die Öffentlichkeit muss erfahren, was hier gespielt wird. Das muss rechtzeitig geschehen, lange, bevor es –  bei der Landtagswahl im Herbst 2018!  – eine Volksabstimmung über einen Verfassungstext geben wird, der dem Wesensgehalt der Hessischen Verfassung womöglich nicht mehr entspricht. Die Einführung einer von der FDP auch schon anderweitig angeregten albernen Hessen-Hymne wird uns dann nicht darüber trösten können, eine weitere, diesmal wesentliche Niederlage erlitten zu haben. Jetzt ist es unerlässlich, dass alle linken und gesellschaftskritischen Kräfte in Hessen um den Erhalt des Kernbereichs der Hessischen Verfassung, die Artikel 27 bis 47, kämpfen. Eine zeitgemäße Weiterentwicklung dieser Artikel in ihrem demokratisch-linken Geiste wäre ja auch vorstellbar. Wie wäre es denn etwa mit dem „Änderungsvorschlag“ der Fraktion Die Linke im Landtag zu Artikel 29? Nach diesem Vorschlag soll dem Artikel ein weiterer Absatz eingefügt werden, der den politischen Streik erlaubt. Das wäre doch eine andere Sache, etwas, wofür zu kämpfen sich lohnte!