Eine Gefahr für die innergewerkschaftliche Demokratie
Der Einsatz von Online-Wahlcomputern, wie er bei der Landesdelegiertenversammlung (LDV) des Landesverbands der GEW Hessen vom 26. bis 28. September 2024 mit dem System OpenSlides erfolgte, wirft erhebliche Bedenken hinsichtlich der innergewerkschaftlichen Demokratie auf. Im Nachgang solcher Ver-sammlungen ist es bedeutsam, nicht nur darauf zu schauen, was abgestimmt und wer gewählt wurde, sondern insbesondere wie abgestimmt und gewählt wurde. Während die digitale Abstimmung vermeintlich Bequemlichkeit und Effizienz bietet, birgt sie eine Vielzahl von Risiken und Herausforderungen, die nicht ignoriert werden dürfen. In diesem Beitrag soll die Problematik des Einsatzes solcher Systeme näher beleuchtet werden.
OpenSlides ist ein digitales System, das zur Durchführung von Online-Abstimmungen und Wahlen verwendet wird. Es ermöglicht den Delegierten, sich online zu registrieren und an Abstimmungen teilzunehmen. Der Prozess beginnt mit der Anmeldung der Nutzenden, die ihre Identität bestätigen müssen. Anschließend können sie ihre Stimme über eine digitale Oberfläche im Browser des eigenen Gerätes abgeben. Die Stimmabgabe wird erfasst und die Ergebnisse werden automatisch berechnet und als Gesamtergebnis angezeigt.Dieses Verfahren bietet auf den ersten Blick eine bequeme Möglichkeit, Abstimmungen durchzuführen, vor allem in Zeiten, in denen physische Versammlungen schwieriger umzusetzbar waren (wobei die diesjährige LDV eine Präsenzveranstaltung war). Doch genau diese scheinbare Einfachheit und Effizienz bringt erhebliche Risiken mit sich.
Eines der gravierendsten Probleme bei der Nutzung von Online-Wahlcomputern ist das Sicherheitsrisiko. Digitale Systeme sind anfällig für Manipulationen. Selbst gut gesicherte Systeme können Schwachstellen aufweisen, die von Angreifern ausgenutzt werden könnten, um Wahlergebnisse zu manipulieren. Eine erfolgreiche Manipulation könnte die Integrität der Wahl ernsthaft gefährden und das Vertrauen der Mitglieder in die innergewerkschaftliche Demokratie untergraben.Bei traditionellen Papierwahlen ist der Manipulationsaufwand erheblich höher, da physische Präsenz und oft mehrere Akteure notwendig sind. Im Gegensatz dazu könnten bei Online-Wahlen bereits wenige oder einzelne Personen mit ausreichend Fachwissen erheblichen Schaden anrichten, ohne dass dies sofort bemerkt wird. Die technischen Details von OpenSlides oder ähnlichen Systemen sind den meisten Mitgliedern unbekannt, was es schwer macht, Manipulationen zu erkennen oder nachzuweisen.
Ein weiteres zentrales Problem ist die fehlende Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Online-Wahlen. Bei einer papierbasierten Abstimmung können Mitglieder den gesamten Prozess von der Stimmabgabe bis zur Auszählung beobachten und überprüfen. Dies schafft Vertrauen und ermöglicht es, eventuelle Unregelmäßigkeiten direkt anzusprechen und zu korrigieren.Bei Online-Wahlcomputern hingegen ist der Wahlprozess für die meisten Teilnehmenden undurchsichtig. Es fehlt die Möglichkeit, den Ablauf der Stimmabgabe und -auszählung vollständig nachzuvollziehen. Selbst wenn OpenSlides versichert, dass die Wahl sicher und transparent abläuft, bleibt eine gewisse Skepsis bestehen. Diese Unsichtbarkeit des Prozesses kann das Vertrauen in die Ergebnisse erheblich beeinträchtigen.Schließlich ist es nicht möglich, die Stimmen nach der intransparenten Ergebnisermittlung unabhängig von der Maschine nachzuzählen, da es keine physischen Belege der Stimmen wie in Form von Wahlzetteln gibt. Weder während noch nach der Wahl ist die Ergebnisermittlung durch die Wählenden oder Beobachtende überprüfbar.
Ein weiterer kritischer Aspekt beim Einsatz von Online-Wahlcomputern ist das Potenzial zur Überwachung des Wahlverhaltens. Da sich die Wählenden bei einem solchen System anmelden müssen, besteht die Möglichkeit, dass ihr Verhalten bis hin zur Stimmabgabe überwacht wird. OpenSlides bietet technisch die Möglichkeit, namentliche Abstimmungen durchzuführen, was bedeutet, dass theoretisch registriert werden könnte, wer wie abstimmt.Diese Möglichkeit zur Überwachung wirft erhebliche Datenschutzbedenken auf und könnte das Ab-stimmungsverhalten der Mitglieder beeinflussen. Die Ungewissheit aufgrund technischer Unkenntnis, dass die eigene Wahlentscheidung potenziell nachverfolgt werden könnte, könnte dazu führen, dass sich Mitglieder in ihrer Entscheidungsfreiheit (indirekt) eingeschränkt fühlen. Dies widerspricht den Prinzipien einer freien Wahl, die für eine funktionierende Demokratie essenziell sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 3. März 2009 (2 BvC 3/07 und 2 BvC 4/07) klare Anforderungen an den Einsatz von Wahlcomputern gestellt. Es betonte, dass der Einsatz von Wahlcomputern den Grundsätzen der Öffentlichkeit der Wahl entsprechen muss. Dies bedeutet, dass die Bürger*innen den Wahlvorgang und die Ergebnisermittlung ohne spezielle Kenntnisse nachvollziehen können müssen. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt fest, dass bei der Nutzung von Wahlcomputern eine vollständige Kontrolle durch die Bürger über den Wahlprozess und die Ergebnisse gewährleistet sein muss.OpenSlides und ähnliche Systeme stehen vor der Herausforderung, diesen hohen Anforderungen gerecht zu werden. In der Praxis ist es für die meisten Mitglieder kaum möglich, die technische Funktionsweise und die Sicherheit der digitalen Systeme zu überprüfen. Dies führt zu einer Situation, in der die Transparenz und die öffentliche Kontrolle, wie sie vom Bundesverfassungsgericht gefordert wird, nicht vollständig gewährleistet werden können. In einem vom Betreiber/Anbieter von OpenSlides in Auftrag gegebenen Gutachten wird festgestellt, dass das System hinter diesen Anforderungen an demokratische Wahlen zurückbleibt.
Das Vertrauen in den Wahlprozess und die Legitimität der Ergebnisse sind essenziell für die Akzeptanz demokratischer Entscheidungen. Jede Form von Misstrauen oder Zweifel an der Integrität der Wahlen kann das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Solidarität innerhalb der Gewerkschaft untergraben. Dies auch, wenn es wie bei der Landesdelegiertenversammlung wiederholt notwendig war, während laufender Abstimmungen den technischen Support rufen zu müssen oder mehrmütige Verzögerung in laufenden Abstimmungen aufgrund technischer Probleme zu bewältigen sind.Der Einsatz von Online-Wahlcomputern, deren Funktionsweise und Sicherheit nicht für alle Mit-glieder transparent und verständlich ist, kann diese Zweifel nähren. In einer Zeit, in der Vertrauen in demokratische Prozesse weltweit immer fragiler wird, sollte eine Gewerkschaft alles daransetzen, dieses Vertrauen zu stärken und nicht durch unbedachte Digitalisierung zu gefährden.
Der Einsatz von Online-Wahlcomputern wie OpenSlides mag auf den ersten Blick effizient und modern erscheinen, doch birgt er erhebliche Risiken für die innergewerkschaftliche Demokratie sowie darüber hinaus, wenn die Mitglieder an solche Wahlsysteme gewöhnt werden. Sicherheitsprobleme, mangelnde Transparenz, Überwachungs- und Datenschutzbedenken sowie rechtliche Herausforderungen und der Ver-lust von Vertrauen sind nur einige der kritischen Punkte, die gegen den Einsatz solcher Systeme sprechen.Statt auf fragwürdige Technologien zu setzen, sollte die GEW Hessen daran arbeiten, bewährte und transparente Wahlverfahren weiterzuentwickeln, die allen Mitgliedern eine gleichberechtigte Teilnahme ermöglichen. Demokratie lebt von der aktiven und informierten Beteiligung aller, und dies sollte stets im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen.Der Vorstand des Kreisverband Wiesbaden-Rheingau hat daher einen einstimmigen Beschluss gefasst, dass er den Einsatz derartiger Wahlsysteme ablehnt.